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Rußland ist die einzige europäische Macht, die die deutsche Dominanz auf dem Kontinent nicht nur nicht zu fürchten braucht, sondern im Gegenteil sich davon eine Unmenge von Vorteilen versprechen kann. So wird Rußland potentiell zum verläßlichen strategischen Verbündeten Deutschlands", schrieb Nikolai Portugalow, einstiger außenpolitischer Berater im ZK der unselig untergegangenen KPdSU, in der großen meinungsbildenden Tageszeitung "Die Welt".
Der großformatige Beitrag unter dem Titel "Das Rapallo-Modell sollte wiederbelebt werden" schien gleichsam frische Ideenluft in das fade Einerlei von Wahlkampfversprechungen und Parteienhader zu wehen. Doch erwies sich schon am nächsten Redaktionstag, daß wohl eher durch ein dünnes Versehen denn durch eine gezielte Provokation am Dogma der hochheiligen Westbindung Hand angelegt worden war: ein Unwissender hatte offenbar aus purem Übermut am falschen Ventil gedreht und verwundert registriert, daß auch da Frischluft ausströmte. Dieser Tabubruch wurde von Wissenden dann geradezu erwartungsgemäß mit einem geharnischten Kommentar unter dem warnenden Titel "Bedenklicher Rat" gleichsam vom Siegelbewahrer höchstselbst an herausragender Stelle gedeckelt. Das Geschäftsprinzip der gedämpften Atmung funktioniert also noch, ob es freilich uns Deutschen auf Dauer die Kurzatmigkeit nehmen kann, scheint fraglich.
Dabei muß nicht jedes Wort des einstigen Sowjetberaters Portugalow auf die Goldwaage gelegt werden, viele seiner polemischen Seitenhiebe durchbrechen zwar das graue Meinungseinerlei des Blätterwaldes, eine gangbare Schneise schlagen sie aber noch nicht. Es ist leicht, mit dem Wunderwort Rapallo alle Widersacher je nach Gemütslage zu ängstigen oder zu elektrisieren, während selbst bei den wohlwollendsten Befürwortern einer engeren deutsch-russischen Zusammenarbeit mit dem zeitlichen Abstand zu 1922 die rauhe Wirklichkeit der sowjetisch/russischen Politik nur wenig Anlaß auf Hoffnung bereitet. Rußlands Oberschicht erlag schon vor dem Ersten Weltkrieg (wie auch gegenwärtig wieder) den Verlockungen dubioser westlicher Finanzmächte, die letztlich aus dem Zwang deutscher Selbstbehauptung (Zweifrontenkrieg) zur bolschewistischen Katastrophe führten und schließlich zur sowjetischen Wahnidee Weltrevolution, die, Europa im Blick, auf Berlin abzielte. Kaum rühmlicher waren die Moskauer Maßlosigkeiten nach dem Ende des zweiten Durchgangs: Teile Ostdeutschlands zur Verwaltung kassiert (und inzwischen fast bis zur Unkenntlichkeit ruiniert), Mitteldeutschland mit einem nichtfunktionierenden System gestraft. Die Schuldlatte wäre noch länger, aber Außenpolitik fragt bloß nach Auswegen aus dem Dilemma der Gegenwart und benötigt verklärte Vergangenheit nur als Podest für ein gemeinsames Zukunftsvehikel.
Um die gegenwärtige russische Lage zu erkennen, muß man nur die letzte IWF-Überweisung an Moskau im Blick behalten, um die Länge der russischen Leine in Sachen Außenpolitik ermessen zu können. "Rußland ist", wie Portugalow richtig schreibt, "bis auf den Hund reformiert", es ist "als kriminalisiertes Entwicklungsland und Weltrohstofflieferant mit Nigeria vergleichbar und obendrein dollarsüchtig, von westlichen Finanzspritzen total abhängig und ohne die geringste Chance, vom 200-Milliarden-Dollar-Schuldenberg herunterzukommen." Jene Verschuldung war es einst, die das mächtige Umfeld des Zaren gegen Berlin führte, jene Schuldenlatte ist es heute, die es ermöglicht, daß US-Soldaten in diesen Wochen in Memel zu Übungszwecken an Land gehen. Vorläufig. Denn die Trennlinie zwischen Russen und Deutschen soll nach 1989 deutlicher denn je markiert werden.
Insofern sind Portugalows Vorschläge bedeutsam. Aber Moskau muß Zeichen setzen: etwa großzügig gewährte Rückkehrmöglichkeiten ins nördliche Ostdeutschland oder gar die Freigabe der Provinz und eine erträgliche Regelung der Eigentumsfragen zwängen nicht nur Warschau und Prag, zugunsten der Deutschen zu entscheiden, sondern würden auch hiesige Politiker in Verlegenheit setzen und das deutsche Volk für russische Pläne einnehmen.
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