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Eine Europäische Union, die global Einfluß nehmen will, muß nach innen geordnet sein. Auf dieser simplen Erkenntnis beruht die derzeitige Diskussion um eine Verfassung für die EU. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie ein Staatenverbund mit bis zu 28 Mitgliedstaaten in Zukunft seinen inneren Zusammenhalt, seine Handlungsfähigkeit und seine demokratische Legitimität sichern kann.
Mit der "Erklärung über die Zukunft der Union" wurde im Dezember 2000 auf dem Gipfel in Nizza von den Staats- und Regierungschefs der EU ein Rahmen für die zukünftige europapolitische Grundsatzdebatte erstmalig skizziert. Allerdings erhob sich schon vor Nizza eine Reihe prominenter Stimmen, die über den eng gesteckten Rahmen der Regierungskonferenz hinaus eine grundsätzliche Klärung der zukünftigen politischen Gestalt der EU forderten.
Den Auftakt bildete der deutsche Außenminister Fischer im Mai 2000 mit einer europapolitischen Grundsatzrede in der Berliner Humboldt-Universität, in der er einen Verfassungsvertrag für die EU forderte, woran sich eine kontroverse Diskussion über das Pro und Contra einer möglichen EU-Verfassung entzündete.
Nach ihm haben sich auch der französische Staatspräsident Jacques Chirac und der deutsche Bundespräsident Johannes Rau grundsätzlich für eine europäische Verfassung ausgesprochen. Zuletzt hat auch Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer gemeinsamen Initiative mit der damaligen italienischen Regierung eine Verfassung für die Europäische Union gefordert und dazu Vorstellungen entwickelt, die zum Teil in die Erklärung von Nizza über die Zukunft der Union Eingang fanden.
Diesen Initiativen stehen Stimmen gegenüber, die vor einer europäischen Verfassung warnen, da diese sich aufgrund der unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen europapolitischen Interessen und Leitbilder und aufgrund der Vielfalt der Staats- und Verfassungstraditionen in Europa allzuleicht als Sprengsatz für die Europäische Union erweisen könnte. Sie verweisen daher auf die großen Erfolge der bisherigen Integrationsstrategie, die auf eine schrittweise und pragmatische Integration abzielt und die auch in Zukunft der richtige Weg für die weitere Einigung des Kontinents sei. Daß diese Auffassung sich eher mit dem Anliegen der EU-Bürger deckt, läßt sich unter anderem an dem Referendum vom 7. Juni 2001 ersehen, in dem sich die Iren gegen den Nizza-Vertrag ausgesprochen haben.
Ein breiter Konsens herrscht dagegen bezüglich der Frage der grundsätzlichen Notwendigkeit umfassender Reformen in der EU. Die Debatte um eine europäische Verfassung ist also in ihrem Kern eine Debatte über die richtige Reformstrategie für die EU. Es wird deshalb zu zeigen sein, welche spezifischen Funktionen eine Verfassung besitzt, die andere Reformstrategien nicht bieten.
Der europäischen Verfassungsdiskussion liegen im wesentlichen drei unterschiedliche Grundpositionen zugrunde:
1. Pro EU-Verfassung
Die Verfechter einer europäischen Verfassung sind der Meinung, daß der europäische Integrationsprozeß an einem grundlegenden Wendepunkt seiner Entwicklung angelangt ist. Erstens verlange die Vollendung der Europäischen Währungsunion einen einheitlichen politischen Rahmen ("Politische Union"), um sie dauerhaft abzusichern. Zweitens erhöhe die rasch voranschreitende Globalisierung den Integrationsdruck auf Europa, da nur ein Europa, das nach außen mit einer Stimme spricht, in der Lage sei, sein eigenes Sozialmodell zu verteidigen und eine gestaltende Rolle in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts einzunehmen. Und drittens mache schließlich die Ost-Erweiterung eine Überwindung der strukturellen und institutionellen Defizite der EU unumgänglich, um den Zusammenhalt, die Handlungsfähigkeit und die demokratische Legitimität einer EU mit wachsender Mitgliederzahl auch in Zukunft zu sichern.
Die EU stehe somit vor der Alternative "Erosion oder Vollendung der Integration". Die bisher so erfolgreiche Integrationsstrategie der "kleinen pragmatischen Schritte" (Monnet-Methode) stoße daher zunehmend an ihre Grenzen. Statt dessen sei eine Grundsatzdiskussion über die Finalität Europas nötig, die in
eine(n) europäische(n) Verfassung(-svertrag) münden solle und der EU eine politische Gestalt geben könne. Ein solcher Verfassungsvertrag müßte auf der Zustimmung der Mitgliedstaaten und der EU-Bürger beruhen, um dem Doppelcharakter der EU als Verbund von Staaten und als Gemeinschaft von Bürgern gerecht zu werden.
Eine EU-Verfassung soll dazu beitragen, das institutionelle Defzit im Hinblick auf die bevorstehende Erweiterung zu beseitigen und dabei stärker das Prinzip der Gewaltenteilung zu berücksichtigen und die Sichtbarkeit des europäischen Grundrechtsschutzes deutlicher zu machen (durch eine Grundrechts-Charta als integraler Bestandteil einer europäischen Verfassung). Dadurch sollen die Zersplitterung und Unübersichtlichkeit des Gemeinschaftsrechts aufgehoben und die Kompetenzverteilung zwischen den einzelnen politischen Ebenen in der EU geklärt werden. Vor allem sollen jedoch die immer wieder beschworenen Demokratie-, Legitimations- und Transparenzdefizite beseitigt und insgesamt Europa einer Repolitisierung zugeführt werden - das Schlagwort vom "Europa der Bürger" bekäme mehr Inhalt.
Schließlich könnte eine europäische Verfassung durch die Entfaltung ihrer integrativen und symbolischen Kraft zu einer Ausbildung einer europäischen Identität beitragen, indem sie die Bürger direkt anspricht, ihnen Rechte gewährleistet und ihnen Orientierung bietet. Schon im Zuge des Verfassungsgebungsprozesses könnte eine breite gesellschaftliche Verfassungsdebatte zu einer wesentlichen Stärkung der europäischen Öffentlichkeit führen.
Auch aus dem bürgerlichen Lager gibt es Stimmen für eine EU-Verfassung. Der ehemalige CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble leitet die von der CDU/CSU in-itiierte Arbeitsgruppe mit, die Vorschläge zu einer europäischen Verfassung aus-arbeiten soll und fordert "einen neuen Verfassungs- oder Grundvertrag", um "grundsätzliche Defizite der Union" zu beseitigen. Vor allem brauche es mehr Flexibilität: Staaten, die mehr Kompetenzen an Brüssel abgeben wollen, sollen die Möglichkeit zu mehr Integration haben als andere. Schäuble sprach bei einem Vortrag in der EU-Kommission in Berlin von einem "Magnetkern" von Regierungen, die andere mitziehen könnten.
Jedoch plädiert er für eine Austrittsklausel - das "Recht auf Scheitern" festige "die Ehe". Die Staaten müßten auch in Zukunft "die Herren der Verträge" bleiben; die kulturellen Unterschiede seien zu groß, um aus der EU einen Bundesstaat zu machen. Um in Zukunft mehr Transparenz zu erreichen, müßten die Zuständigkeiten von nationalen Regierungen und EU außerdem viel klarer abgegrenzt werden. Das ist "des Pudels Kern", so Schäuble. Die europäischen Entscheidungen müßten in Zukunft "durch europäische, demokratisch legitimierte Organe" geleistet werden, und zwar durch das Europaparlament, verstärkt durch eine zweite Kammer, die sich aus den Mitgliedern des Ministerrates zusammensetzen soll. Ein neuer Vertrag bedürfe mehrerer Anläufe, sagte Schäuble. Für die kommenden Jahre reichten kleinere Reformen, man müsse nur wissen: "Wir brauchen noch mehr."
Der entscheidende Schwachpunkt der meisten Forderungen nach einer europäischen Verfassung besteht allerdings darin, daß sie sich in erster Linie auf die institutionellen Reformen und auf die Frage der Legitimation der EU beziehen und keine verfassungstheoretische Fundierung mit klaren Kategorien und Begriffen für ein supranationales europäisches Verfassungsverständnis erkennen lassen.
2. Ansicht des EuGH
Ein Teil der Kritiker an den zuvor dargelegten Auffassungen geht davon aus, daß die EU keine Verfassung brauche, weil sie bereits eine habe. Die Vertreter dieser These sind vor allem unter den EU-Richtern zu finden. Die Frage "Braucht Europa eine Verfassung?" ist für sie falsch gestellt, da die EG/EU-Verträge im Zuge der europäischen Integration einem weitgehenden Konstitutionalisierungsprozeß unterworfen wurden. Dieser Prozeß wurde wesentlich von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vorangetrieben. Schon 1991 qualifizierte der EuGH im ersten Gutachten zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) den EWG-Vertrag als "charte constitutionelle d une communauté de droit": "Der EWG-Vertrag (stellt), obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar (...). Die wesentlichen Merkmale der so verfaßten Rechtsordnung der Gemeinschaft sind ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltenden Bestimmungen."
Die Grundthese des EuGH ist, daß aus den verfassungsrechtsähnlichen Gründungsakten der Gemeinschaft Direktwirkung und Vorrang des Gemeinschaftsrechts unmittelbar folgen und einen nationalen Rechtsanwendungsbefehl überflüssig machen. In der Gründung der Europäischen Gemeinschaften lag also nicht nur die übliche Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Vertrag, sondern eine definitiv gemeinte Verfassungsgebung, mittels der die Gemeinschaften mit ihren Hoheitsbefugnissen konstituiert wurden.
Dagegen versäumt es der EuGH, die Grundlagen dieser europäischen Verfassung, nämlich die verfassunggebende Gewalt, die Aufgaben und Grenzen dieser Verfassung zu erarbeiten. Die Argumentation des Gerichtshofs bleibt daher zirkelschlüssig. Einerseits wird der Verfassungscharakter der Verträge damit begründet, daß es einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht gäbe; der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird aber wiederum mit dem Verfassungscharakter der Verträge begründet. Die These des EuGH entwickelt also keine Verfassung Europas, sondern setzt diese voraus. Die These wird somit zur reinen Behauptung.
3. Contra EU-Verfassung
Der überwiegende Teil der Kritiker an einer EU-Verfassung geht davon aus, daß die EU keine Verfassung habe und auch keine brauche. Die Vertreter dieser Position finden sich vor allem unter den deutschen Staatsrechtlern. Hinter dieser These verbirgt sich ein traditionelles, streng etatistisches Verfassungsverständnis, wonach eine Verfassung nur die rechtliche Grundordnung eines Staates sein kann. Die europäische Verfassungsfrage wird somit zur Frage nach der Staatswerdung Europas.
Hinzu kommt die Vorstellung, daß demokratische Verfassungen von einem Staatsvolk, dem Demos, begründet und legitimiert werden müssen. Ein solches Demos existiere aber im europäischen Rahmen nicht. Paul Kirchhof, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, der maßgeblichen Anteil am Maastricht-Urteil des BVerfG von 1993 hatte, bringt diese Haltung auf eine kurze Formel: "Wo kein Staat, da keine Verfassung, und wo kein Staatsvolk, da kein Staat."
Der Begriff "Staatsvolk" wird, wie im Maastricht-Urteil des BVerfG, als vorpolitische Gemeinschaft definiert, die sich durch eine relative ethnisch-kulturelle Homogenität auszeichnet.
Auch Dieter Grimm, ebenfalls ehemaliger Richter am BVerfG, argumentiert ähnlich. Die Voraussetzungen für Demokratie werden bei ihm jedoch nicht vom Volk, sondern von der Gesellschaft her entwickelt, die sich als politische Einheit konstituieren will. Diese bedarf allerdings eines kollektiven Zusammengehörigkeitsbewußtseins, welches Mehrheitsentscheidungen und Solidarleistungen zu tragen vermag und das die Fähigkeit einschließt, sich über Ziele und Probleme diskursiv zu verständigen.
Genau an dieser Stelle offenbart die EU ihre zentralen Schwachpunkte. Sie verfügt nur über eine schwach entwickelte europäische Identität und ihre transnationale Diskursfähigkeit ist eng begrenzt. Hierzu tragen auch die sprachliche Vielfalt der EU und die im europäischen Rahmen nur wenig ausgeprägten intermediären Strukturen (Parteien, Medien etc.) bei. Die Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates bleiben daher vorerst weiterhin auf den nationalstaatlichen Rahmen angewiesen. Insofern bleibt die Verfassung auch bei Grimm am Ende auf den Staat bezogen.
Angesichts der Struktur- und Legitimationsdefizite der EU und ihrer anstehenden Erweiterung ist die Notwendigkeit von umfassenden Reformen in der EU klar. Die Lösung der europäischen Kompetenzfrage ("Wer soll was machen?") wird immer dringlicher, um die Effizienz und Verantwortlichkeit politischen Handelns in der EU zu sichern.
Diese strukturellen Defizite der Europäischen Union lassen sich jedoch grundsätzlich im Zuge eines umfassenden Vertragsrevisionsverfahrens eliminieren; eine Verfassung wie sie zum Beispiel unser Grundgesetz darstellt, ist dafür nicht erforderlich.
Es kann ferner auch nicht um die Ausarbeitung einer europäischen Staatsverfassung gehen. Die Europäische Union ist kein Staat und soll nach der vorherrschenden Meinung in der europäischen Verfassungsdebatte -
unabhängig von der Augenwischerei manch eines deutschen Politikers - auch keiner werden. Einer europäischen "Verfassung" muß daher ein europäisches nicht-staatliches Verfassungsverständnis zugrunde liegen, das dem besonderen supranationalen Charakter der Union Rechnung trägt.
Eine europäische Verfassung ist daher nur als eine Komplementärverfassung denkbar, das heißt nicht ein in sich geschlossenes und selbsttragendes Ordnungssystem, sondern nur eine ergänzende Verfassungsordnung, die nicht nur die Grundrechte der europäischen Bürger garantieren würde, sondern auch die Autonomie der Mitgliedstaaten inklusive ihrer nationalstaatlichen Verfassungsordnungen. Sie könnte somit gleichzeitig Sicherheit gegenüber Zentralisierungstendenzen in der EU bieten und den internen Zusammenhalt der EU gewährleisten.
Diese Art der europäischen Verfassung könnte auch dazu genutzt werden, Antworten auf die institutionellen und demokratischen Strukturdefizite der EU zu finden. Insbesondere gilt es, verstärkte Einfluß- und Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger Europas zu eröffnen, um sie enger in den europäischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß einzubinden.
Eine so konzipierte europäische Verfassung könnte einer zukünftig erweiterten EU als stabile konstitutionelle Grundlage dienen, ihr die nötige Legitimität verleihen, ihren inneren Zusammenhalt sichern, ihre Handlungsfähigkeit gewährleisten und wesentlich zur Stärkung der europäischen Identität beitragen. Eine stärkere europäische Identität sollte dabei nicht auf Kosten der nationalen Identitäten gehen, denn Nation und Europa bedingen sich gegenseitig. N
Neuzeitliches Babylon: Für einige Rechtsexperten ist die sprachliche Vielfalt innerhalb der Europäischen Union - und trotz festgelegter Amtssprachen auch ihrer Gremien - ein Grund für eine notwendige Strukturreform, die eine einheitliche Verfassung jedoch nicht zwangsläufig einschließt.
Befürworter einer EU-Verfassung ist der ehemalige CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäubl |
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