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Gedanken zur Zeit

 
     
 
Zu Recht begibt sich Arnulf Baring in seinem lesenswerten Buch: "Es lebe die Republik, es lebe Deutschland" auf die Suche nach einem Mythos für das demokratische Deutschland. Zu Recht auch bezweifelt er, daß den sogenannten 68ern dabei eine positive Bedeutung zukommen könne, weil sie "selbstgerecht und pauschal alles, was vor ihrer Zeit gewesen war, dem Faschismus zurechneten" und "erst mit der Ankunft ihrer eigenen Generation Demokratie, Freiheit und Fortschritt gesichert glaubten".

Bitter beklagte dieser Tage Götz Hamann in der "Frankfurter Allgemeinen" (FAZ) dieses Verdikt Barings. Schließlich hätten die 68er eine soziale Revolution unter dem Begriff der "Emanzipation" ausgelöst und seien in diesem Sinne zumindestens aktive Bürger. Das genüge, um sie zum Teil eines demokratischen Mythos zu machen. Darum sei es so bedauerlich, daß Baring den 68ern "keine golde- nen Brücken zur kleinen Ruhmeshalle der deutschen Demokratie" baue.

In dieser Ruhmeshalle aber hat die "kleine radikale Minderheit" der deutschen Studenten, die Mao-Bibeln schwenkend mit Ho-Chi-Minh-Rufen im Sturmschritt über die Straßen hüpfend, blutige kommunistische Diktat
oren hochleben ließ und die deutsche Öffentlichkeit wie die Universitäten terrorisierte, wirklich nichts zu suchen, auch wenn sie sich später einen mediengerechten emanzipatorischen Glorienschein zulegte.

Der rührende Versuch der FAZ, die 68er in diese Ruhmeshalle zu schmuggeln, ist ebenso zum Scheitern verurteilt, wie seinerzeit die Umgestaltung Deutschlands in ein sozialistisches Gemeinwesen an der "fehlenden Massenbasis", also am deutschen Volk, scheiterte, das sich gegen die selbst von Adorno damals so bezeichnete "kollektive Neurose" wehrte. Was blieb, war ein pseudoelitärer Selbstverwirklichungswahn, der zu einer Periode des Niedergangs und des Zerfalls führte, mit allen ihren Folgen für Moral, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland. Das aber kann nicht der Pfad in die Ruhmeshalle deutscher Demokratie sein.

Vom einheitsstiftenden Mythos deutscher Demokratie, also der "Volksherrschaft", haben sich die 68er selbst und ganz bewußt entfernt. "Ob die Deutschen in zwei, drei, vier oder einem Dutzend Staaten lebten, war uns schnuppe." So beschrieb der Schriftsteller und Fernsehautor Patrick Süskind das Lebensgefühl seiner 68er Generation, bevor dieses durch die von ihnen als Schock empfundene Wiedervereinigung arg gestört wurde. Die Einheit der Nation, das Nationale überhaupt, sei ihre Sache nicht gewesen, und: "Wir hielten es für eine vollkommen überholte und von der Geschichte widerlegte Idee aus dem 19. Jahrhundert, auf die man getrost verzichten konnte". Der Zeitgeist trieb sie nach Westen in die Provence und nach Süden in die Toscana, die ihnen viel näher lagen als "so dubiose Ländereien wie Sachsen, Thüringen, Anhalt, Mecklen- oder Brandenburg", denn: "Was hatten wir mit Leipzig, Dresden oder Halle im Sinn? Nichts. Aber alles mit Florenz, Paris, London", gestand Süskind. Doch 1989 habe sie "das Erdbeben kalt erwischt". Die Frage aber muß erlaubt sein: Darf der Weg in die Ruhmeshalle mit Irrtümern, Ignoranz, Illusionen und Vorurteilen gepflastert sein?

Dieser Weg führt vielmehr über die Bejahung des demokratischen deutschen Nationalstaates und verlangt somit demokratischen Patriotismus. Damit ist er auch zutiefst europäisch, denn der demokratische Nationalstaat ist das Europäische an Europa. Die deutsche Geschichte ist reich an großartigen identitätsstiftenden Persönlichkeiten und Ereignissen in Politik, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Die Beschränkung deutscher Geschichte auf die dunklen Jahre des Nationalsozialismus verhindert die Entwicklung eines demokratischen Mythos und verhilft dem Dämon Hitler zur Herrschaft über die Geschichte der Deutschen, und das, obwohl seine Ziele nicht nationaler, sondern imperialistischer Art waren.

Wenn es heute in Deutschland überhaupt noch Patriotismus gibt, dann ist das bestimmt nicht auf die 68er zurückzuführen, sondern vielmehr auf das unermüdliche Eintreten der deutschen Heimatvertriebenen und ihrer Freundeskreisen für deutsches Geschichtsbewußtsein und Gemeinschaftsgefühl im Geiste der Gerechtigkeit und der Versöhnung. Das war und ist das Vermächtnis, das sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben und das durch sie noch immer lebendig war, als die weltpolitischen Veränderungen die friedliche deutsche Revolution des Jahres 1989 ermöglichten und die Chancen aus ihr genutzt werden konnten. Durch die Heimatvertriebenen und die dem Einfluß der 68er nicht ausgesetzten Deutschen zwischen Thüringer Wald und Rügen war noch Patriotismus im Land, als die 68er vom Erdbeben des Jahres 1989 "kalt erwischt wurden". Und genau das war das vielzitierte "Wunder" der deutschen Einheit.

 
     
     
 
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