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Es war schon ein trauriger Jahrestag in der deutschen Geschichte, doch vor allem der Streit um die Anzahl der Todesopfer an der Berliner Mauer, die wenige Tage vor dem 13. August, 45 Jahre nach dem Beginn des Mauerbaus, in Deutschland geführt wurde, löste in so manchem ein Gefühl der Abwehr aus. „Weniger Mauertote als bisher vermutet“, meldeten die Medien am 8. August. Das „Zentrum für Zeithistorische Forschung“ (ZZF) und die „Mauergedenkstätte Bernauer Straße“ hatten vor einem Jahr den Auftrag erhalten, die genaue Anzahl der Todesopfer an der Berliner Mauer zu ermitteln. Anhand von Verfahrensakten der Staatsanwaltschaft, Stasi-Unterlagen, der von der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ über Jahrzehnte hin angelegten Opferliste, von Zahlen der „Zentralen Ermittlungsbehörde für Regierungs- und Vereinigungskriminalität “ (ZERV), von zeitgenössischen Medienberichten und von Zeitzeugen war man zu Beginn der Forschungen von 268 Maueropfern in Berlin ausgegangen.
Jetzt, fast ein Jahr später, heißt es, 125 Getötete hätten bisher nachgewiesen werden können, während 62 mutmaßliche Todesfälle „definitiv auszuschließen“ seien. Hierbei handele es sich teilweise um als vermeintliche Mauertote geführte Flüchtlinge, die allerdings schwer verletzt überlebt hätten. Manche von ihnen seien sogar heute noch am Leben. Was allerdings in vielen Medienberichten unterging, war die Tatsache, daß insgesamt noch 81 Verdachtsfälle geprüft werden müssen, was bedeutet, daß es letztlich doch noch über 200 Mauertote sein könnten. Das vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien mit 260 000 Euro geförderte Forscherteam hat zwei wissenschaftliche Mitarbeiter quer durch Deutschland zu Zeitzeugen und in Archive geschickt. Fall für Fall wurde jeder Name auf der aus den genannten verschiedenen Quellen zusammengestellten Opferliste mit 268 Maueropfern geprüft. Hans- Hermann Hertle, Leiter des Projektes von Seiten des ZZF, erklärt sich den Umstand, daß 62 mutmaßliche Todesfälle auszuschließen seien, damit, daß beispielsweise die Liste der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ größtenteils auf Hören-Sagen aufgestellt wurde.
Die schon in den 60er Jahren angelegte Aufstellung war aufgrund der zwei deutschen Teilstaaten nicht zu überprüfen gewesen. Erst mit der Wiedervereinigung war es möglich, die Archive einzusehen. Hören-Sagen sei jedoch keine wissenschaftliche Basis. So gäbe es beispielsweise einen Fall, in dem West- Berliner der Meinung gewesen seien, sie hätten einen Vorfall mit zwei erschossenen DDR-Flüchtlingen in der Nacht beobachtet, dabei hätten DDR-Unterlagen jetzt gezeigt, daß es nur ein Flüchtling gewesen sei. Außerdem sei auch die Opfer- Definition eine andere. Wasserleichen aus Grenzgewässern würden bei der Arbeitsgemeinschaft als Mauertote geführt, dabei hätten sie genausogut Opfer eines Gewaltverbrechens, Unfalls oder Selbstmordes sein können. Hans-Hermann Hertle findet das Gefeilsche um Opferzahlen „pervers“. „Die Mauertoten sind nur die Spitze der Gewalt, die von der Mauer ausging.“ So denke man nur an die unzähligen Menschen, die bei ihrer Flucht gefangengenommen wurden und in Gefängnissen wie Bautzen inhaftiert wurden. Eine niedrigere Opferzahl würde keineswegs die SED-Diktatur relativieren, so Hertle. Das von ihm geführte Forschungsprojekt sei schließlich kein Zahlenspiel, es gehe hier vielmehr darum, den Opfern ein Gesicht zu verleihen ( www.chronik-der-mauer.de ) und die Hintergründe für ihre Flucht für die Nachwelt festzuhalten. Es gehe um Menschen wie Karl-Heinz Kube. Für den 1955 in Westfalen geborenen Hertle ist der Fall eines 1949 geborenen Mannes sehr berührend. Karl-Heinz Kube war gerade 17 Jahre alt, als er mit einem Bild der Beatles in der Hosentasche in den Westen wollte. „Er war ein jugendlicher Fan.“ Für die Grenzpolizisten war er allerdings nur ein Flüchtling, den sie 1966 durch Schüsse in den Kopf und in die Brust vom Verlassen des DDR-Territoriums abhielten. 80 Prozent der Mauertoten waren junge Männer unter 30 Jahren, viele sogar noch Jugendliche und Kinder, die vom Abenteuer „Flucht“ angetan waren. So auch Lothar Schleusener (13) und Jörg Hartmann (10). Die Kinder, die zu Jörgs Vater im Westen wollten, wurden von Grenzposten erschossen. Den Eltern schickte man nur die Asche und die Nachricht, die Jungen wären beim Spielen ertrunken beziehungsweise tödlich verunglückt. Die Todesschützen wurden für ihre „Leistung“ prämiert. Alexandra Hildebrandt von der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ wertet die Zwischenbilanz des ZZF als Affront gegen ihre Arbeit. Die Leiterin des privaten „Mauermuseum Checkpoint Charlie“ verteidigt die von ihrem verstorbenen Vater aufgestellte, immer wieder aktualisierte Liste: Zu jedem Opferhinweis gebe es mindestens eine anerkannte Dokumentenquelle. Den Hinweis von Hans-Hermann Hertle, daß die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ ihre Quellen nicht aufgedeckt habe, sei schlicht damit zu begründen, daß das ZZF nie danach gefragt habe. Auch habe die Arbeitsgemeinschaft noch nicht einmal eine Einladung zur Pressekonferenz erhalten, geschweige denn, daß man mit ihr zusammengearbeitet hätte. Hildebrandt stimmt es nachdenklich, daß die rot-grüne Bundesregierung den Forschungsauftrag bezüglich der Anzahl der Mauertoten erst erteilt hatte, nachdem man mit viel Medienwirbel ihre Installation der 1065 Kreuze am Checkpoint Charlie im Juli 2005 behördlich hatte räumen lassen. 1065 Grenzopfer habe es nicht geben dürfen. Also wurde der Auftrag an das ZZF vergeben, das jedoch nur die Toten an der Berliner Mauer habe überprüfen dürfen, so als habe es keine anderen Grenzen in der DDR gegeben, dabei sei nur knapp ein Fünftel über Berlin geflüchtet. Hunderte hätten es über die innerdeutsche Grenze, die Ostsee oder die Tschechoslowakei versucht. „Warum ignoriert man die mindestens 46 Opfer der Berliner Grenze vor dem 13. August 1961?“ rätselt Hildebrandt. Eine weitere Frage, die sich auch die Überlebenden des SED-Regimes und die Hinterbliebenen der Opfer berechtigt stellen: „Warum wurde die Zwischenbilanz exakt zum 45. Jahrestag des Mauerbaus verkündet?“
"Todesopfer an der Berliner Mauer"
Von der militärisch bewachten Grenze, die West- Berlin zwischen 1961 und 1989 umgab, gingen vielfältige Formen der Gewalt aus. „Todesopfer an der Berliner Mauer“waren für das ZZF:
• Personen, die bei einem Fluchtversuch im Grenzgebiet von Angehörigen der bewaffneten Organe der DDR (in der Regel durch Schußwaffeneinsatz) getötet wurden oder an den Folgen der dabei erlittenen Verletzungen gestorben sind.
• Personen, die bei einem Fluchtversuch im Grenzgebiet ohne Fremdeinwirkung durch einen Unfall zu Tode gekommen oder an den Folgen der so erlittenen Verletzungen gestorben sind (Stürze, Ertrinken).
• Personen, die unabhängig von einer Flucht im Grenzgebiet aufgrund von Handeln oder Unterlassen staatlicher Organe der DDR verstorben sind (zum Beispiel Ost-Berliner, die versehentlich für Flüchtlinge gehalten und erschossen worden sind).
• Angehörige der DDR-Grenztruppen, die von Flüchtenden oder im Zusammenhang mit Fluchtaktionen im Grenzgebiet getötet oder tödlich verletzt worden sind.
• Personen, die durch oder bei Handlungen der Grenzorgane zu Tode kamen, zum Beispiel bei einer Kontrolle. |
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