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Genau ein Jahr ist es jetzt her, seit Gerhard Schröder seine Agenda-2010-Rede hielt. Seitdem kann die Unionsspitze sich auf der - gar nicht so unbequemen - Oppositionsbank zurücklehnen und genüßlich zuschauen, wie die SPD sich selbst zerfleischt. Die Reformdebatte stürzte den Kanzler und SPD-Chef in eine Zerreißprobe, der er nicht gewachsen ist. Am Ende schrumpften die vollmundig angekündigten Reformen zu Reförmchen, wuchsen sich "Pleiten, Pech und Pannen" zum mehr als abendfüllenden Dauerprogramm aus, ist der Medien-Superstar auf einmal nur noch Ex-Parteichef - und bald wohl auch Ex-Kanzler.
Die Opposition könnte eigentlich in Ruhe abwarten, wie ihr ein Wahlsieg nach dem anderen zufällt; irgendwann wäre dann ja auch die letzte Bastion, das Kanzleramt, fällig . Wenn da nicht diese lästigen Querulanten wären, die meinen, eine Opposition dürfe sich nicht damit begnügen, grundsätzlich dagegen zu sein; sie müsse auch eigene Konzepte erstellen und dem Bürger sagen, was sie will, wenn man sie nur an die Macht ließe ...
So hat nun auch die Union ihren eigenen Reformstreit: Den einen geht Schröders Agenda zu weit, den anderen nicht weit genug. Was beiden gemeinsam ist: Sie merken überhaupt nicht mehr, wie weit sie von allem abgehoben haben, was der normale Bürger noch verstehen und nachempfinden kann, weil er es aus dem eigenen Lebens- und Berufsalltag kennt.
Ein typisches Beispiel: Am letzten Wochenende schreckten die Präsidien von CDU und CSU das Volk auf mit der Idee, bei Neueinstellungen generell den Kündigungsschutz für vier Jahre auszusetzen. Nach heftigem Streit blieb davon eine beschränkte Sonderregelung für über 50jährige, was wiederum von den einen als halbherzig, von den anderen als kaltherzig kritisiert wurde. Beide Seiten aber dokumentieren damit, daß sie keine Ahnung haben, wie es in Deutschland im "wirklichen Leben", sprich vor Arbeitsgerichten, zugeht.
Der weitaus größte Teil der sogenannten Kündigungsschutzklagen endet mit einem Vergleich oder einem Erfolg des klagenden Arbeitnehmers. Doch sind das fast immer nur Pyrrhussiege: Dem Kläger wird attestiert, daß ihm eigentlich nicht hätte gekündigt werden dürfen. Aber nur in den seltensten Fällen erhält er tatsächlich seinen Job zurück, sonst wird nur noch über die Höhe der Abfindung befunden.
Warum sind unsere reformfreudigen Politiker nicht so mutig, zuzugeben: Kündigungsschutz im Wortsinn gibt es nur auf dem Papier; solchen Etikettenschwindel sollte man nicht reformieren, sondern abschaffen. Freilich nicht ersatzlos: Statt eines Gesetzes, das den erklärten Zweck längst nicht mehr erfüllt, brauchen wir eine klare, saubere, ehrliche und für alle Betroffenen tragbare rechtliche Regelung der Beendigung von Arbeitsverhältnissen.
Dieses Beispiel ist auf viele andere Reformprojekte übertragbar. Denn der Grundfehler ist immer derselbe: Kluge Theoretiker haben tolle Ideen, die am "grünen Tisch" ganz plausibel klingen, mit der Realität aber nichts zu tun haben. Unsere Berufs- und Parteipolitiker leben in ihrer eigenen Welt am Volk vorbei. Fragen wir doch die 603 Bundestagsabgeordneten: "Wie viele von Ihnen haben schon mal ein Arbeitsamt besucht (nicht als händeschüttelnder Grüßonkel vor dem nächsten Wahltermin, sondern als Arbeitsloser)?" Oder: "Wann waren Sie zum letzten Mal beim Arzt (nicht mit Vorzugstermin, sondern als Kassenpatient mit 10 Euro Praxisgebühr)?" Der Fragenkatalog ließe sich beliebig fortsetzen, die stets gleichen Antworten kann man sich ohne viel Phantasie ausrechnen. Wer wundert sich da noch über das Stückwerk, das Regierung und Opposition uns derzeit unter dem irreführenden Namen "Reformpolitik" bieten? |
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