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In Trauer vereint

 
     
 
Seit Tagen nur Regen, Regen. Himmel wie Ostsee ein einziges Grau. Solch ein Wetter drückt auf ein empfindsames Gemüt. Ich greife zu einem Fotoalbum voller vergilbter Bilder von Menschen, die einst mein Leben bereicherten. Mein Auge erblickt die Fotografie eines Geschäftshauses, darstellend die Phönix Drogerie, gelegen auf dem Mittel- bzw. Hinteranger zu Königsberg i. Pr. Ein Eckhaus, es ragt wie ein Schiffsbug in den Anger hinein. Ein solides Bauwerk mit dicken Mauern, tiefem Keller und hohem Dachstuhl. Die Eigentümer betriebe
n die väterliche Drogerie, waren mir seit Kindheitstagen in mehrfacher Weise vertraut. Ich bin in meinem späteren Leben mit ihnen verbunden geblieben, intensiver, da ich ihre Nichte freite.

Ging ich als Kind auf meinem Weg zum Neuen Markt auf Tantenbesuch, versäumte ich nicht, die Drogerie aufzusuchen. Machte dort meinen Diener, nicht uneigennützig, denn stets erhielt ich aus einem großen, auf dem Ladentisch stehenden Glasbehälter einen oder mehrere Bonbons. Natürlich meist Hustenbonbons, denn es war ja eine Drogerie. Eine Drogerie, wie unsere heutige Zeit sie nicht mehr kennt. Im Ladenraum schwebte ein Duft, den man keiner Ware eindeutig zuordnen konnte. Durfte ich gelegentlich gemeinsam mit dem Lehrling Johannes, genannt Hansi - ein Neffe der Drogisten -, in den Keller hinabsteigen, so trieb es mich schleunigst wieder hinauf, hustend und tränenden Auges. Dort unten standen Korbflaschen, gefüllt mit Salmiakgeist, Petroleum, Spiritus, ferner in Tonnen Farbpulver in vielen Tönen, grüne Seife und viele andere nicht gerade gesundheitsfördernde Ingredienzien. Besser bekam mir ein Besuch auf dem Trockenboden. Auf Zeitungsblättern der „Königsberger Allgemeinen“ lagen die verschiedensten duftenden Kräuter, oder sie hingen in Bündeln an Deckenbalken und verströmten aromatische Gerüche.

Zwischen Boden und Keller befanden sich - abgesehen vom Ladenraum - die Wohnräume. Diese nach altväterlichem Geschmack möbliert im Danziger Stil. Alles groß, schwer, schwarz, von Dämmerlicht umgeben. Für mich als Kind besaß das Meublement stets etwas Bedrohliches, und es zog mich in hellere Räume. Tante Emmi und Onkel Felix, wie ich sie nannte, obwohl nicht mit ihnen verwandt, wirkten durchaus nicht bedrohlich, im Gegenteil. Dennoch waren sie auf ihre Weise skurril. Ein gemeinsames Schlafzimmer gab es nicht. Sie müssen dieses wohl gleich nach der Zeugung des einzigen Kindes, Horst, fluchtartig verlassen haben. Onkel schlief und hauste in einem Bodenraum, Tante bewohnte den ersten Stock. Viel Gemeinsames herrschte ohnehin nicht zwischen ihnen. Sie war dem Theater zugetan, weniger der Institution als solcher, mehr den Schauspielern, insbesondere den jungen, charmanten männlichen Darstellern. Jedenfalls führte sie ein gastliches Haus im Sinne eines damaligen Schlagers: „Trink’ man noch ein Tröpfchen …“, doch verlor sie nie ihren ausgeprägten Geschäftssinn. Das war auch notwendig, denn Onkel Felix war für das väterliche Geschäft eher belastend als fördernd. Er duldete das gesellschaftliche Treiben in seinem Haus, wenn auch mißbilligend. In der Gästeschar sah er zu Bekehrende und bedachte sie mit Bibelsprüchen. Dies war seine Mission als Bibelforscher, wie er sich bezeichnete. Eindringlich zitierte er aus dem Alten Testament die Propheten und kündigte das baldige Weltenende an. Dieses gar mit Datumsangabe. Überlebte die Welt dann diesen Zeitpunkt, und er war darob hämischen Bemerkungen ausgesetzt, dann verwies er auf Rechenfehler, die ihm unterliefen. Er irrte, nicht die Propheten!

Dann kam im wahrsten Sinne des Wortes wie aus heiterem Himmel das Unheil über die Stadt. In zwei Augustnächten 1944 versank die Innenstadt in Schutt und Asche, mitreißend viele Bewohner. Die Phönix Drogerie gab es nicht mehr. Aus der Schreckensnacht gerettet hatten die beiden nur ihr nacktes Leben. Ihr Hab und Gut bestand nun aus dem Inhalt zweier Köfferchen. Kein Haus mehr, kein Salon, nur noch beschränkte Quartiere. Zunächst zogen sie zu ihrem Sohn nach Elbing. Vorweg gab es einen kurzen Aufenthalt bei ihrer Schwester in Rauschen. In beiden Quartieren mußten sie sich mit einem Zimmer begnügen. Was für ein Bruch zwischen dem bislang geführten, sorgenfreien Leben und den Einschränkungen, die sie von heute auf morgen bewältigen mußten. Doch es kam noch schlimmer, viel schlimmer!

Unentwegt näherte sich die Front dem Raum Elbing und bedrohte die ganze Region. Sohn Horst wurde erneut eingezogen und konnte den Seinen keine Hilfe bieten. So blieb er zurück, und seine Lebensspur verlor sich im Inferno um Elbing. Die Eltern mit Schwiegertochter, Enkelkind und wenigem Gepäck zogen getrieben vom Kriegslärm mit vielen Schicksalsgenossen durch Eis und Schnee zum Frischen Haff. Allein dort bot sich noch ein Schlupfloch aus dem Kesseltreiben. Das Kind erfror. Mit Müh und Not erreichten sie einen Hafen und retteten sich mit vielen Hunderttausenden über die Ostsee. Ruhe fanden sie erst in Dänemark.

Infolge der Kriegsereignisse verloren wir uns aus den Augen. Doch dann gab es nach Jahren ein Wiedersehen. Unweit von Wismar wohnten sie nun, abgemagert, alt. Die Schrecknisse der letzten Jahre hatten sie gezeichnet. Doch tatenlos verbrachte Onkel Felix seine Tage nicht. Mit handwerklichem Geschick reparierte er vorwiegend Brillengestelle und leistete so einen bescheidenen finanziellen Beitrag zu ihrer kümmerlichen Lebenslage. Dennoch, sein Sendungsbewußtsein erfüllte ihn wie eh und je. „Spökenkieker“ nannten ihn die Einheimischen nachsichtig. Tante Emmi tippte zuweilen verstohlen an ihre Stirn, bekundete dem Zuhörer damit, die Sprüche ihres Mannes nicht ernst zu nehmen. Sie fand damit nicht immer Zustimmung. In jener Zeit gab es viel Verzagtheit, und ein Weltuntergang hätte alle Probleme gelöst. Überhaupt erschien mir das Verhältnis der beiden zueinander friedlicher als früher. Die gemeinsam durchstandene Not und Pein ließ sie duldsamer miteinander umgehen. In Erinnerung an ihre verlorene Heimat und an ihren vermißten Sohn fanden sie sich in vereinter Trauer.

Die Jahre vergingen. Nach Jahren verstarb Onkel Felix, zwar nicht durch den Weltuntergang, sondern an Altersschwäche. Zurück blieb Tante Emmi, an der Einsamkeit leidend. Wir holten sie zu uns. Langsam, aber stetig verlosch ihr Leben. Geboren am Pregel, verstorben am Rhein. Dazwischen liegen 1000 Kilometer! Das ist berechenbar. Unberechenbar ist die Freude, vielmehr noch das Leid, das ihnen und Millionen Betroffener widerfuhr.

All diese trüben Gedanken gingen mir durch den Sinn. Nachdenklich schloß ich das Fotoalbum mit den vielen Gesichtern von Lieben, die einst mein Leben begleiteten. Siehe da, ein vereinzelter Sonnenstrahl trifft meinen Schreibtisch. Sollte es doch noch …? Es bleibt die Hoffnung! Und die Erinnerung!

 
     
     
 
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