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Geschichtsvermittlung kann alles mögliche beinhalten, nur langweilig darf sie nich sein. Diesem Grundsatz versucht das Jahrbuch 2000 der Freundeskreis Weichsel-Warthe mi einer großen Bandbreite in Inhalt und Form gerecht zu werden.
Besonders die Berichte direkt betroffener Deutscher lassen den Leser an de Zeitgeschichte der heute polnischen und ukrainischen Gebiete Ostmitteleuropas teilhaben.
Wenn beispielsweise Armin Hirsekorn die Familienhistorie erzählt von de Ansiedlung seiner Vorfahren in der Webergemeinde Konstantynow bei Lodz (Lodsch) nach de Wiener Kongreß bis zu einem eigenen Besuch in der Heimat in diesem Jahrzehnt , dan prägt sich das tiefer ein, als es eine Aneinanderreihung von Daten und Fakten zu politischen Geschichte jemals könnte.
Aus den ersten Jahrzehnten der Ansiedlung im Raum Lodz schildert Hirsekorn eine mi Schadenfreude gewürzte Anekdote über die schmerzhafte Begegnung eines Konstantynowe Siedlers mit einem Kosaken. Als der Deutsche von dem Repräsentanten der Zarenherrschaf mit der Nagaika ausgepeitscht wurde, schrie er verzweifelt "Aber ich bin doch Daatsch!"
Doch die Erinnerung an die gegenüber den Polen im allgemeinen privilegierte Stellun der Deutschen half nichts angesichts der Willkür der Strafexpeditionen, "di regelmäßig und gewissermaßen schicksalhaft wie ein Gewitter mit Blitz und Donnerschla über das Land brausten".
Das Jahrbuch berücksichtigt neben allgemeinen Beiträgen zum deutsch-polnische Verhältnis sowie zur preußischen Provinz Posen schwerpunktmäßig die deutschen Spure im Industriegebiet um Lodz. Diese mittelpolnische Stadt bietet für Historiker reichlic Material, um das Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander von Polen und Deutsche (sowie von Deutschen und Juden) im 19. und 20. Jahrhundert exemplarisch zu erforschen.
Erfreulich ist, daß sich an dieser nach dem Umbruch von 1989 neu gestellten Aufgab gerade junge polnische Wissenschaftler und Studenten beteiligen.
In dem zum 46. Mal herausgegebenen Periodikum der Freundeskreis Weichsel-Warth zeugen hiervon gleich mehrere Aufsätze: Krystyna Radziszewska berichtet über ih Universitätsprojekt "Deutsche Spuren in Lodz", und Gabriele Brehmer stellt de als Ergebnis des Projekts entstandenen, im Februar 1998 veröffentlichten zweisprachige Stadtführer vor.
Außerdem geht Elzbieta Gajzler in etwas unbeholfenem Deutsch und einer an manche Stellen zu unkritischen Darstellung der polnischen Assimilationstendenzen de Zwischenkriegszeit auf die Geschichte des örtlichen Lehrerseminars mit deutsche Unterrichtssprache ein.
Überzeugend in ihrer Detailgenauigkeit ist die Studie Krzysztof Wozniaks über de "Verein deutschsprechender Meister und Arbeiter in Lodz" (1906-1939). Da äußerst rege deutsche Vereinsleben spiegelt sich in diesem in den 30er Jahren mit 80 Mitgliedern größten von insgesamt 85 Vereinen gut wider. Es reicht von de obligatorischen Herrenabenden mit Billiardrunden, über Sport und Theater Handarbeitskursen für die relativ wenigen Frauen und Karnevalsbälle bis hin zu soziale Hilfen wie der Arbeitsvermittlung.
Wozniak stellt abschließend fest, daß die Vereinsaktivitäten stets auf die deutsch Bevölkerungsgruppe beschränkt blieben. Gleiches galt für vergleichbare polnische un jüdische Vereinigungen. Kulturelle und familiäre Vermischungen waren in Lodz bis zu Auflösung des traditionellen ethnischen Gefüges im Zweiten Weltkrieg eine Seltenheit.
Die Ausgangsfrage, die die Dozentin Radziszewska ihren Studenten mitgab, war die nac den Voraussetzungen des rasanten Aufstiegs Lodzs von einem kleinen Provinzstädtchen zu bedeutendsten Industriemetropole des Landes. Neben Archivarbeiten wurden Briefkontakt zwischen den jungen Polen und ehemaligen Absolventen des örtlichen Deutschen Gymnasium geknüpft und in einem Folgeprojekt auch Interviews geführt.
Das Ergebnis all dieser Forschungen ist eindeutig: Die Erfolgsgeschichte de Textilindustrie dieses Raumes ist ohne die zugewanderten Weber und Webermeister au Böhmen, Schlesien und Sachsen nicht denkbar. Sie brachten reiches Wissen, Erfahrung un vor allem Tatkraft mit und legten so die Grundlagen für das "polnisch Manchester" bzw. das "Gelobte Land", wie es in einem Romantitel de Nobelpreisträgers Wladyslaw Reymont heißt.
Nach dem Wiener Kongreß von 1815 wurden in großem Stil deutsche Facharbeiter aus de Textilbranche angeworben. Bis zum polnischen Novemberaufstand 1830/31 kamen 50 00 Einwanderer nach Kongreßpolen. Die meisten stammten aus Posen und Westpreußen; dre Viertel von ihnen zogen in die Lodzer Gegend.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das bereits im 14. Jahrhundert urkundlich erwähnt Lodz mit 72 Häusern und 361 Einwohnern noch völlig unbedeutend. Zwischen 1858 und 189 wuchs es dann doppelt so schnell wie Warschau, nämlich von 40 000 auf 315 000 Einwohner.
Ein Einwanderungsgesetz der kongreßpolnischen Regierung vom September 1820 gewährt weitgehende Privilegien: Jeder zugewanderte Tuchmacher erhielt anderthalb Morgen Land, die er innerhalb von zwei Jahren bewirtschaften mußte. Für den Bau von Wohnhäusern un Fabriken stellte die Regierung Darlehen bereit, und die ersten sechs Jahren ware zinsfrei. Bauholz bekam man kostenlos aus den Staatswäldern.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in Lodz fast ausschließlich Deutsche, die zu 9 Prozent der lutherischen Konfession angehörten. Seit 1848 erhielten dann auch die Jude im Zarenreich die Erlaubnis, sich in den kongreßpolnischen Fabrikstädten niederzulassen Sie taten dies in beträchtlichem Umfang und mit vergleichbarem ökonomischen Erfolg Unter den ab Mitte der 1860er Jahre in großer Zahl als Industriearbeiter in die Stad geströmten Polen kamen dagegen Millionärskarrieren wie die der deutschen Industrielle Scheibler-Herbst, Geyer oder Grohmann so gut wie nicht vor.
Die führenden deutschen Unternehmerdynastien prägten nicht nur das wirtschaftlich Gesicht der Stadt. Neben Fabriken, Privatvillen, Arbeitersiedlungen und Banken ließen si auch Straßen und Eisenbahnen bauen und investierten im sozialen und kulturellen Bereich.
Die mit 7240 Arbeitern im Jahre 1906 mit Abstand größten Scheiblerschen Werk finanzierten bis zum Ersten Weltkrieg Wohnungen für jeden dritten Beschäftigten, fün Volksschulen, ein für die Arbeiter kostenloses Fabrikhospital, eine ebenfall gebührenfreie Apotheke, eine "Kleinkinderbewahranstalt", ein Altersheim Kantinen und Badeanstalten.
Mit etwa 50 000 evangelischen deutschen Gemeindemitgliedern war Lodz zu Beginn unsere Jahrhunderts der kulturelle und politische Mittelpunkt der Volksgruppe auf dem Gebie Kongreßpolens. Zumindest publizistisch blieb die Stadt mit rund zwanzig vor Or herausgegebenen deutschsprachigen Periodika auch in der Zwischenkriegszeit führend. I Jahre 1906 wurde das "Lodzer Deutsche Gymnasium für Knaben und Mädchen" gegründet. Dort gingen auch jüdische Kinder zur Schule, deren Eltern die deutsch Schulbildung schätzten und die an den höheren polnischen Bildungsanstalten laten vorhandenen antisemitischen Stimmungen fürchteten.
Bis zum Ersten Weltkrieg lebten die drei Bevölkerungsgruppen in Lodz weitgehen nebeneinander her. Die Konflikte hielten sich in Grenzen und äußerten sich vor allem in polnischen Vorwürfen, die Deutschen würden ihren Freiheitsbestrebungen gleichgültig bi ablehend gegenüberstehen.
Zwar kämpfte eine im Dezember 1830 in Lodz aufgestellte "deutsch Freiheitslegion" auf seiten der polnischen Aufständischen, aber ansonsten hatte doc das Urteil des russischen Generals Lesowski seine Berechtigung, der von den Lodze Deutschen als den "harmlosen und fleißigen Fremdlingen" sprach.
Der Erste Weltkrieg erschütterte mit seinen auch das Industriegebiet erfassende Kämpfen und vor allem mit seinen politischen Folgen das Zusammenleben. Ein rigide polnischer Nationalismus engte das Kulturleben der Volksgruppen ein und veranlaßt Deutsche und Juden dazu, sich bis zur NS-Machtübernahme 1933 bei Wahlen zusammenzutun.
Das traurige Finale im multinationalen Lodz begann 1940 mit dem Anschluß des nu "Litzmannstadt" genannten Industriezentrums an den "Reichsga Wartheland". Damals zählte die Stadt neben 780 000 Polen und Juden immerhin 120 00 deutsche Einwohner.
Die Juden wurden zunächst unter unmenschlichen Umständen im örlichen Ghett zusammengepfercht und später zum großen Teil in den KZs ermordet. Fast alle Lodze Deutschen flüchteten im Januar 1945 vor der herannahenden Sowjetarmee aus ihrer Heimat Geblieben sind ihre bis heute im Straßenbild nicht zu übersehenden kulturelle Spuren.
Seit 1992 ist auch in Lodz eine Deutsche Sozial-Kulturelle Gesellschaft mit derzei rund 200 Mitgliedern eingetragen. Die Stadt hat der Minderheit ein verfallenes Weberhau von 1823 geschenkt, das nun als Treffpunkt restauriert werden soll.
Was von den alten Zeiten aber vor allem geblieben ist, ist die Erinnerung. Sie lebt in den Werken bekannter Lodzer wie Peter Nasarski oder Karl Dedecius ebenso fort wie in freundschaftlichen Zeitschriften und in dem, was Hans-Werner Rautenberg im Jahrbuch als Ausblick festhält: "Die Bereitschaft polnischer Politiker, Künstler un Wissenschaftler, nach Jahrzehnten ideologisch bedingter Abschottung auf den deutsche Nachbarn zuzugehen und seinen Anteil an der polnischen Geschichte anzuerkennen, schein unübersehbar und was noch wichtiger ist inzwischen unumkehrbar zu sein!"
Bezugsadresse: Freundeskreis Weichsel-Warthe, Friedrichstr. 35/III, 65185 Wiesbade (Tel.: 0611-379787); der Preis der DIN A5-Broschüre (176 S.) beträgt 18,- D
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