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Die Politik des Reichskanzlers Otto von Bismarck verfolgte nach dem Sieg über Frankreich zwei Ziele, einmal die Sicherung der Grenzen des gerade entstandenen Kaiserreiches, zum anderen die Isolierung des damals als Erbfeind empfundenen Frankreich. Bismarck wußte nur zu genau, die erreichte Größe des Deutschen Reiches war das Äußerste, was den europäischen Großmächten "zugemutet werden konnte". Deutschland, an militärischer Stärke und wirtschaftlicher Kraft seinen Nachbarn überlegen, sei "saturiert", erklärte er mehrfach nach der Reichsgründung und lehnte jede weitere Ausdehnung ab. Dagegen strebte Frankreich danach, Elsaß -Lothringen zurückzugewinnen.
Schon das Jahr 1875 sorgte mit der "Krieg-in-Sicht-Krise" für gehörige Aufregung zwischen Paris und Berlin. Als bekannt wurde, daß die Französische Republik beabsichtigte, eine erhebliche Erhöhung der Schlagkraft ihres Militärs vorzunehmen, und daraufhin in der "Post", die als Sprachrohr Bismarcks galt, der Artikel "Ist Krieg in Sicht?" erschien, stimmten die Zeitungen mehrerer Länder eine helle Panikmache an. Sofort boten England wie auch Rußland ihre Vermittlerrolle im Falle einer möglichen deutschen Gegenmaßnahme an. Doch Bismarck, der die Ämter des deutschen Reichskanzlers mit denen des Ministerpräsidenten und Außenministers Preußens in Personalunion führte, gelang es, die Wogen zu glätten. Mit Nachdruck wies er die Versuche zurück, Deutschland als Friedensstörer hinzustellen; er erklärte, allein die Presse und deren Hintermänner seien schuld an den außenpolitischen Verstimmungen. Längerfristig entscheidend war für Bismarck die Erkenntnis, daß England und Rußland trotz ihrer weitreichenden politischen Gegensätze einen weiteren französischen Machtverlust zugunsten Deutschlands nicht dulden würden.
In der manchmal undurchsichtigen russischen Außenpolitik, die Bismarck aus seiner Zeit als preußischer Gesandter in Petersburg wohl bekannt war, spielten die antipolnisch-monarchistischen Kräfte und die polonophil-panslawistische Richtung ihre Einflüsse gegeneinander aus. Zwar hatte gerade das Zarenreich infolge seiner neutralen Haltung Bismarcks Erfolge ermöglicht, doch konnte Rußland kaum darüber erfreut sein, eine starke militärische Kraft an seiner Westgrenze entstehen zu sehen. Des Reichskanzlers Trauma war deshalb das Entstehen feindlicher Koalitionen. Seine Politik war bestimmt durch seinen Alptraum der (gegen das Reich gerichteten) Bündnisse (le cauchemar des coalitions), die dem Kaiserreich nach seinem Tod ja schließlich auch tatsächlich zum Verhängnis wurden.
Durch das Dreikaiserabkommen zwischen Wilhelm I., Franz Joseph I. und Zar Alexander II. gelang es Bismarck am 20. Oktober 1873, das gemeinsame Interesse der drei großen Staaten am Erhalt der monarchistischen Staatsform zu festigen. Störend auf diese Beziehung wirkte sich allerdings der russisch-österreichische Gegensatz auf dem unruhigen Balkan aus. Bismarck konnte hier aber ausgleichen. Er betonte die Interessenlosigkeit des Deutschen Reiches in Südosteuropa mit dem bekannten Ausspruch, daß der Balkan "nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert" sei.
In Bosnien war 1875 ein Aufstand gegen die osmanische Besatzung ausgebrochen, der bald den gesamten Balkan erfaßte. In Rußland, das sich als Schutzmacht der im Osmanischen Reich lebenden orthodoxen Christen betrachtete, drängte die panslawistische Bewegung zum Krieg.
Schon im Jahre 1867 hatte der zweite Slawistenkongreß in Moskau als Nahziel die Meerengen und die Befreiung der slawischen Brüder vom Türkenjoch postuliert. Die Russen errangen im Türkenkrieg große Erfolge, sie verjagten die Osmanen fast vom gesamten Balkan und nötigten im März 1878 dem Osmanischen Reich einen harten Frieden auf: Serbien, Montenegro und Rumänien wurden vergrößert und selbständig. Bulgarien, mit ausgedehntem Territorium neu geschaffen, kam unter russischem Einfluß; es erhielt einen Zugang zum Ägäischen Meer und öffnete damit dem Zarenreich den Weg zum Mittelmeer. Dagegen erhoben nun Österreich-Ungarn und Großbritannien energisch Einspruch.
Um die Dardanellen vor einem russischen Zugriff zu schützen, schickten die Briten Kriegsschiffe in das Marmarameer. Der englisch-russische Interessengegensatz war sowieso schon durch die schrittweise russische Ausdehnung in Zentralasien (Turkestan, Taschkent, Samarkand) äußerst verschärft worden. Die Spannungen nahmen nun derart zu, daß der europäische Friede nur noch an einem seidenen Faden zu hängen schien. Ein letztes Mittel, den brüchigen Frieden zu retten, sah man schließlich in einem durch Bismarcks Vermittlung zustande gekommenen Kongreß.
Bismarck sträubte sich zunächst, die Kongreßleitung zu übernehmen. Anders als Napoleon III. wollte er sich nämlich nicht die Vermittlertätigkeit durch Land- oder Machterwerb versüßen lassen, um das Bild vom saturierten Reich nicht zu zerstören. Andererseits sah er die Gefahr, daß sich Wut über das Kongreßergebnis gegen die Kongreßleitung richten könnte. Wenn Bismarck sich trotzdem bereit erklärte, auf einem Kongreß als "ehrlicher Makler" die Leitung zu übernehmen, so tat er es, weil er davon ausging, daß das Reich aufgrund seiner Mittellage in einen Balkankrieg unter Einschluß der Großmächte hineingezogen würde und in einem Krieg viel verlieren aber nichts gewinnen könne. So wurde Berlin Tagungsort eines Kongresses, der vom 13. Juni bis zum 13. Juli 1878 dauerte.
Wie befürchtet konnte Bismarck es nicht allen recht machen, so klug er auch den Kongreß leitete. Insbesondere Zar Alexander II. (1855-1881) hatte größeren Dank für seine Haltung in der Zeit der Reichsgründung erwartet. Der faktische Leiter der russischen Delegation, Alexandr Michailowitsch Fürst Gortschakow, sprach sogar von einer russenfeindlichen Haltung des Kanzlers, weil das Zarenreich nicht alle eroberten osmanischen Gebiete behalten durfte. Für Bismarck war vor allem die Sicherheit Deutschlands entscheidend. Im November 1878 schrieb er dem preußischen Kronprinzen: "Es würde ein Triumph unserer Staatskunst sein, wenn es uns gelänge, das orientalische Geschwür offenzuhalten, dadurch die Einigkeit der anderen Großmächte zu vereiteln und unseren eigenen Frieden zu sichern."
Obwohl Otto von Bismarck die russischen Wünsche auf dem Berliner Kongreß so weit als möglich berücksichtigt hatte, konnte er es nicht verhindern, daß im August 1879 Zar Alexander in einem ungewöhnlichen Privatbrief an Kaiser Wilhelm I., dem sogenannten "Ohrfeigenbrief", schwere Vorwürfe gegen Bismarck erhob. Aber eine stärkere Berücksichtigung russischer Interessen wäre nur auf Kosten Österreichs gegangen. Bismarck hat sich stets dagegen gewehrt, die Wünsche Österreich-Ungarns oder die Rußlands einseitig zu unterstützen. Er mußte mit seinem Herrn und Kaiser einen harten Kampf ausfechten, um dessen Zustimmung zu einem Zweibund mit Österreich zu erhalten, wobei er nachdrücklich betonte, daß der am 7. Oktober 1879 unterzeichnete Vertrag das Reich nur zur Abwehr einer russischen Aggression verpflichte, nicht aber zur Unterstützung eines österreichischen Angriffs auf Rußland. Der Kanzler wollte sich nicht an das "Leitseil" der habsburgischen Regierung binden lassen, die wiederum in erster Linie ihre multinationale Doppelmonarchie gegen den panslawistischen Ansturm schützen wollte.
Das Bündnis mit Österreich-Ungarn war für Bismarck ein Mittel zur Erneuerung des zwischenzeitlich aufgelösten alten Dreikaiserabkommens. Der Reichskanzler gewann das Vertrauen des neuen Herrschers aller Reußen, Zar Alexander III. (1881- 1894). Dieser hatte nach der Ermordung seines Vaters den russischen Thron bestiegen. Nach langwierigen Verhandlungen schlossen 1881 Wilhelm I., Franz Joseph I. und Alexander III. den Dreikaiservertrag. Ihm folgte der Dreibund zwischen Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn. Es bestanden also enge Verbindungen zwischen Berlin, Rom und Wien einerseits und zwischen Berlin, Petersburg und Wien auf der anderen Seite. Bismarcks diplomatischem Geschick war ein Netzwerk von Bündnissen mit den Großmächten Mittel-, Ost- und Südeuropas gelungen.
Gleichzeitig schien aber im Westen die Kriegsgefahr zu wachsen. In der Dritten Republik hatte General Georges Boulanger das Kriegsministerium übernommen. Seine nationalistische Haltung bestärkte die französische Publizistik in ihrem Ruf nach Revanche. Hauptziel blieb die Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen. "Nie davon reden, immer daran denken", war Léon Gambettas Losung.
Um Großbritannien zumindest indirekt an den Dreibund anzubinden, die Stellung des Dreibundpartners Österreich-Ungarn auf dem Balkan gegenüber Rußland zu stärken und das Zarenreich um so interessierter an einem guten Verhältnis mit Deutschland zu machen, förderte Bismarck ein Mittelmeerabkommen zwischen England und Italien, dem sich die Donaumonarchie 1887 anschloß. Die Briten wichen in diesem Falle von ihrem Grundsatz der "splendid isolation", sprich der Bündnislosigkeit, ab, da sie wie die Habsburgermonarchie bestrebt waren, die Russen auf keinen Fall ans Mittelmeer gelangen zu lassen und den Status quo im östlichen Mittelmeer zu schützen.
Um zu verhindern, daß Rußland in dieser Situation Anschluß an Frankreich suchte - immer unverblümter eiferten die Panslawisten für ein Zusammengehen mit Paris - unterzeichnete Bismarck am 18. Juni 1887 mit dem russischen Botschafter Pawel Andrejewitsch Graf Schuwalow den Rückversicherungsvertrag. Das Deutsche und das Zarenreich sicherten sich in diesem Vertrag wohlwollende Neutralität zu, wenn Deutschland von Frankreich oder Rußland von Österreich-Ungarn angegriffen werden sollte. Würde Rußland selbst Österreich-Ungarn angreifen, so fand es nach dem Zweibundvertrag Deutschland auf der Gegenseite. In einem geheimen Zusatzprotokoll sagte das Deutsche dem Zarenreich zu, es in dessen Meerengen-Politik zu unterstützen.
Die Strategie, die Bismarck mit dieser dem einen oder anderen möglicherweise unlogisch und widersinnig erscheinenden Taktik verfolgte, hat er 1877 in dem sogenannten Kissinger Diktat niedergelegt, das manches klarer erscheinen läßt:
"Ein französisches Blatt sagte neulich von mir, ich hätte ,le cauchemar des coalitions ; diese Art Alp wird für einen deutschen Minister noch lange, und vielleicht immer, ein sehr berechtigter bleiben. Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer; eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Drucke auf uns bieten. In der Sorge vor diesen Eventualitäten, nicht sofort, aber im Lauf der Jahre, würde ich als wünschenswerte Ergebnisse der orientalischen Krisis für uns ansehen: 1. Gravitierung der russischen und der österreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin, 2. der Anlaß für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen, und unseres Bündnisses zu bedürfen, 3. für England und Rußland ein befriedigender status quo, der ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, welches wir haben, 4. Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich wegen Ägyptens und des Mittelmeers, 5. Beziehungen zwischen Rußland und Österreich, welche es beiden schwierig machen, die antideutsche Konspiration gegen uns gemeinsam herzustellen, zu welcher zentralistische oder klerikale Elemente in Österreich etwa geneigt sein möchten. Wenn ich arbeitsfähig wäre, könnte ich das Bild vervollständigen und feiner ausarbeiten, welches mir vorschwebt: nicht das irgendeines Ländererwerbes, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreichs uns bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden."
Man hat Bismarcks Rückversicherungsvertrag mit den Russen häufig als Treulosigkeit gegenüber Wien kritisiert. Tatsächlich sind die außenpolitischen Methoden der deutschen Bündnispolitik immer komplizierter geworden. Sie haben aber, so lange der Reichskanzler die Fäden in der Hand hielt, ihren Zweck, den Frieden zu sichern und dem Reich einen Zweifrontenkrieg zu ersparen, erfüllt. Eine Politik der "Nibelungentreue" war nicht die seine, da sie das Reich auf Gedeih und Verderb an eine andere Macht band und von deren Politik abhängig machte. Stellt man die außenpolitischen Situation von 1887 der von vor 90 Jahren gegenüber, dann läßt sich Bismarcks Leistung in der Außenpolitik richtig beurteilen. Rüdiger Ruhnau
Otto Fürst v. Bismarck bei Wilhelm I. im Eckzimmer des Berliner Palais "Unter den Linden" im letzten Jahre ihres Zusammenwirkens: Der erster Kanzler des Deutschen Reiches hatte das Glück, im ersten Kaiser einen Herrscher zu haben, der seine geistige Überlegenheit erkannte und ihm deshalb in seiner Politik weitgehend folgte. /p>
Der Kanzler und sein Kaiser
Das gewaltige Werk Otto von Bismarcks wurde ermöglicht durch das einzigartige Zusammenwirken mit seinem Herrn und Kaiser Wilhelm I. Bismarck hatte sich dem König bei seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten 1862 auf die Gefolgschaftstreue eines preußischen Edelmannes verpflichtet. Bei aller Überlegenheit fühlte er sich stets als Vasall und Soldat seines Königs. Wilhelm I. wiederum bewahrte ihm auch in schwierigsten Zeiten die Treue, fern aller Eifersucht auf dessen Ruhm. Auf Gefolgschaftstreue und Soldatentum war auch das Bismarcksche Reich gegründet. Niemals tastete Bismarck die Ehre eines anderen an, auch dem besiegten Franzosenkaiser hatte er alle Ehre eines Herrschers erwiesen und dem französischen Volk keine Bedingungen auferlegt, die dessen Ehre kränkten.
Erst der Tod des fast 93jährigen Kaisers am 9. März 1888 beendete das enge Verhältnis zweier Männer, deren arbeitsame Pflichterfüllung im Dienste des Vaterlandes dem Deutschen Reich Wohlstand und Ansehen verschafft hatte. R. R.
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