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Wenige Wochen nachdem König Ludwig II. von Bayern König Wilhelm I. von Preußen den Kaiserbrief geschickt hatte, beschloß der Bundesrat des Norddeutschen Bundes im Einverständnis mit den Regierungen der süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen eine entsprechende Verfassungsänderung. Der erste Absatz des Artikels 11 der Bundesverfassung erhielt nun den Satz: „Das Präsidium des Bundes steht dem König von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt.“
Die Volksvertreter folgten dem von den Fürsten und deren Regierungen eingeschlagenem Weg. Am 10. Dezember 1870 beschloß der Norddeutsche Reich stag eine Adresse an den Preußenkönig mit der Kernaussage „Vereint mit den Fürsten Deutschlands naht der Norddeutsche Reichstag mit der Bitte, daß es Ew. Majestät gefallen möge, durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen“.
Es ist eine Ironie des Schicksals, daß die Delegation des Norddeutschen Bundes mit Eduard von Simson vom selben Mann geleitet wurde, der seinerzeit auch die Nationalversammlungsdelegation angeführt hatte, die Wilhelms I. älteren Bruder Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone angetragen hatte. Diesmal erhielt der Mann, der in seinem Leben nacheinander Präsident der Frankfurter Nationalversammlung, des Norddeutschen Reichstages und des Deutschen Reichstages gewesen ist, jedoch keinen Korb vom preußischen König.
Ein entscheidender Grund hierfür liegt in dem Zusatz „vereint mit den Fürsten Deutschlands“. Damit haftete dieser Kaiserkrone nicht der „Ludergeruch der Revolution“ an, um es mit der Begrifflichkeit Friedrich Wilhelms IV. auszudrücken. Vielmehr konnte sich Wilhelm I. als von seinen „Brüdern“ erwählter Kaiser betrachten, was er auch tat.
Die Zustimmung der Fürsten der deutschen Mittel- und Kleinstaaten erleichterte jedoch nicht nur aus dem ideologisch-weltanschaulichem Grunde der Legitimität der Krone deren Annahme, sondern natürlich auch aus macht- beziehungsweise realpolitischen. Doch nicht nur die nationale, sondern auch die internationale Konstellation war 1870/71 günstiger für eine Annahme der Kaiserkrone als noch 1848/49. Österreich hatte seinen jahrhundertelangen Führungsanspruch in Deutschland inzwischen faktisch aufgegeben. Obwohl Preußen Österreich 1866 einen milden Frieden gewährt hatte, konnten sich die Deutschösterreicher von der Niederlage im Deutschen Krieg nicht mehr erholen. Sie konnten froh sein, wenn sie in Österreich Führungsmacht blieben. 1867 hatten sie dem Ausgleich mit den Magyaren zustimmen müssen, der aus dem deutsch dominierten Kaiserstaat die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gemacht hatte. Wie in anderen Politikfeldern machte sich der neue ungarische Einfluß auch in der Außenpolitik bemerkbar. Für die Ungarn besaß die deutsche Frage jedoch keine Priorität. So sahen sie in Preußen denn auch weniger einen Konkurrenten denn einen (potentiellen) Verbündeten im Machtkampf mit Rußland um Einfluß auf dem Balkan, der die Magyaren ungleich mehr interessierte als Deutschland.
Auch von Rußland war kaum Widerstand zu erwarten. Das lag in hohem Maße, aber nicht ausschließlich an Bismarcks vorausschauender Außenpolitik, die Rußland in der Polenfrage mit der Alvenslebenschen Konvention entgegengekommen war. Die internationale Konstellation war auch günstig und ermöglichte eine Symbiose. Preußen verhielt sich bei der Lösung der Pontusfrage durch Rußland wohlwollend neutral, und dafür tat Rußland gleiches bei der Lösung der deutschen Frage durch Preußen.
Der traditionelle Erzfeind eines einigen Deutschland, Frankreich, war nach der Niederlage von Sedan zu schwach, um in der deutschen Frage zu intervenieren. Und Großbritannien stand für eine denkbare Intervention keine schlagkräftige Großmacht als kontinentaler Verbündeter zur Verfügung.
Nachdem Wilhelm I. sich zur Annahme der Kaiserkrone entschlossen hatte, bestimmte er den 18. Januar und damit den Jahrestag der Krönung des ersten Preußenkönigs zum Tage der Proklamation. Wenn Wilhelm denn auch zum Führen des Kaisertitels bereit war, so herrschte doch zwischen ihm und seinem Regierungschef bis zur Kaiserproklamation ein erbitterter Dissens, der am Tage vor der Proklamation eskalierte. Wilhelm, der sehr stur sein konnte, erklärte bei den Schlußberatungen, er wolle Kaiser von Deutschland oder gar nicht Kaiser sein. Wenn man weiß, daß Bismarck bei der Reichsgründung an den Rand dessen ging, was er glaubte, der Staatenwelt zumuten zu können, kann man sich Bismarcks Qualen vorstellen. Durchaus plausibel argumentierte er gegenüber seinem Herrn, „daß der Titel Kaiser von Deutschland einen landesherrlichen Anspruch auf die nichtpreußischen Gebiete involviere, den die Fürsten zu bewilligen nicht gemeint wären“, und daß sowohl im Kaiserbrief als auch in der Reichsverfassung von „Deutschem Kaiser“ die Rede sei. Bismarck kannte seinen Herrn und beschränkte sich deshalb nicht darauf, realpolitisch und juristisch zu argumentieren. So hob er hervor, „wie die adjektivische Form Deutscher Kaiser und die genitivische Kaiser von Deutschland sprachlich und zeitlich verschieden seien. Man hätte Römischer Kaiser, nicht Kaiser von Rom gesagt: der Zar nenne sich nicht Kaiser von Rußland, sondern Russischer, auch ,gesamtrussischer‘ (wserossiski) Kaiser.“ Bismarck „machte ferner geltend, daß unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm II. auf den Thalern Borussorum, nicht Borussiae rex erscheine“.
Doch es nützte alles nichts. So wandte sich der Regierungschef noch am Morgen des 18. Januar an Großherzog Friedrich I. von Baden. Der Ehemann von Wilhelms Tochter Prinzessin Luise und sein Schwiegervater standen sich sehr nahe, und es war geplant, daß er nach der Verlesung der Proklamation Wilhelms I. das Hoch ausbringen solle. Aufgrund seiner Nähe zu Wilhelm antwortete er auf Bismarcks Frage, wie er den Kaiser zu bezeichnen gedenke: „Als Kaiser von Deutschland, nach Befehl Sr. Majestät.“ Bismarck wußte jedoch, daß Friedrich nicht nur Wilhelms Schwiegersohn war, sondern auch wie viele Südwestdeutsche liberal und konstitutionell gesinnt, und so appellierte er an die Verfassungstreue des Fürsten – nicht ohne Folgen.
Der Großherzog sprach seinen Schwiegervater auf das Dilemma an und schlug ihm schließlich eine geschmeidige Lösung vor, die weder die Verfassung verletzte noch dem Kaiser weh tat. Dieser erwiderte nur etwas unwillig. „Du kannst das machen, wie du willst, ich werde mich später doch nur so nennen, wie ich es will, nicht wie Bismarck es bestimmen will.“
Über die Feierlichkeiten aus Anlaß der Kaiserproklamation am 18. Januar in Versailles liegt der Nachwelt eine Schilderung des Feld-Divisionspfarrers des I. Gardeinfanteriedivision Bernhard Rogge vor, der für den der eigentlichen Proklamation vorgeschalteten kirchlichen Teil verantwortlich war.
Gegen 10 Uhr wurden die Fahnen und Standarten, durch welche die vor Paris liegenden Truppen der dritten Armee und der Maasarmee bei der Feier vertreten sein sollten – 56 an der Zahl, darunter 18 bayerische –, unter klingendem Spiel über die Place d’Armes am Standbild Ludwigs XIV. vorbei in das ehemalige Königsschloß gebracht und auf einer am Ende des Spiegelsaals errichteten Estrade aufgestellt, von der herab die Proklamation der mit der Krone Preußens fortan verbundenen Kaiserwürde vor sich gehen sollte. Der langgestreckte Saal, in dessen Mitte an einer der Langseiten ein Feldaltar errichtet war, begann sich mit den zur Feier befohlenen Deputationen der in und um Versailles liegenden Truppen, mit Offizieren aller Waffengattungen und Grade, mit den Oberbefehlshabern der Belagerungskorps und allen zum königlichen Hauptquartier gehörigen Offizieren und Beamten zu füllen. Den mit der roten Felddecke der ersten Garde-Infanterie-Division bedeckten Altar, dessen Tisch dem Audienzzimmer Ludwigs XIV. entnommen war, umstanden neben Rogge die in Versailles und Umgebung liegenden Feld-, Divisions- und Lazarettpfarrer.
Punkt 12 Uhr verließ König Wilhelm in einem einfachen offenen Wagen, den er für seine täglichen Spazierfahrten benutzte, sein Quartier in der Präfektur, um sich in das durch Louis Philipp zur Ruhmeshalle Frankreichs gemachte ehemalige Königsschloß zu begeben. Vor dem am Eingang des Schlosses stehenden Reiterstandbild Ludwigs XIV. war die 1. Kompanie der Königsgrenadiere als Ehrenwache aufgestellt.
Nachdem der König die Ehrenkompanie abgeschritten hatte, betrat er, vom Kronprinzen empfangen und begleitet von sämtlichen in Versailles anwesenden Fürstlichkeiten, den Festsaal, wo in dem Augenblick seines Eintrittes ein militärischer Sängerchor den Psalm „Jauchzet dem Herrn, alle Welt“ anstimmte. Wilhelm I. nahm gegenüber dem Altar Aufstellung, und zwar sinnigerweise an der Stelle unter dem Mittelbild der reichbemalten Decke, an der zu Zeiten des Sonnenkönigs bei großen Hofzeremonien der Thronsessel gestanden hatte. Um ihn gruppierten sich im Halbkreis die Prinzen und Fürsten. Hinter den Fürsten und ihnen zur Seite standen die Generale und Minister, an ihrer Spitze der Kanzler. Nach dem Chorgesang stimmte die Versammlung den ersten Vers des Chorals „Sei Lob und Ehr’ dem höchsten Gut“ an. Der liturgische Teil des Gottesdienstes schloß mit der Vorlesung von Psalm 21, wo es sinnigerweise heißt: „Herr, der König freuet sich in deiner Kraft, und wie fröhlich ist er über deine Hilfe! Du gibst ihm seines Herzens Wunsch und weigerst nicht, was sein Mund bittet. Denn du überschüttest ihn mit gutem Segen, du setzest eine goldene Krone auf sein Haupt.“ Hierauf hielt Rogge die Weiherede. Ein mächtig durch die weite Halle dahinbrausendes „Nun danket alle Gott“ beschloß diesen Teil der Feier.
Der König begab sich darauf festen Schrittes auf die am Ende des Spiegelsaals errichtete Estrade, um dann die Annahme der Kaiserkrone kundzutun. Für die Oberhäupter beziehungsweise Repräsentanten der deutschen Mittel- und Kleinstaaten wählte er die Form einer vergleichsweise kurzen und formlosen Ansprache. Für das Volk verwendete er eine Proklamation, die er nach seinen eigenen Worten an die „durchlauchtigsten Fürsten und Bundesgenossen“ durch seinen Kanzler verlesen ließ, der hierzu an den Fuß der Etrade trat. Bemerkenswert ist dabei, daß Wilhelm weder in seiner Ansprache noch in seiner Proklamation auf die Adresse des Norddeutschen Reichstages vom 10. Dezember 1870 Bezug nimmt. Der Besuch der parlamentarischen Kaiserdeputation war ihm offenkundig ähnlich (un)wichtig, wie sie seinem älteren Bruder Friedrich Wilhelm gut zwei Jahrzehnte zuvor gewesen war.
Nach Wilhelms Ansprache und Proklamation trat Großherzog Friedrich an seinen Schwiegervater heran und bat ihn um die Erlaubnis, die Versammlung zu einem Hoch auf ihn einladen zu dürfen. Dann rief er in die harrende, lautlose Versammlung: „Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Kaiser Wilhelm, lebe hoch!“ Der Badenser hatte also eine Lösung gefunden, die ihn weder in Loyalitätskonflikt zur Verfassung noch zum Schwiegervater brachte.
Der spätere königliche Hofprediger in Potsdam Bernhard Rogge beschreibt es wie folgt: „Es war der Höhepunkt der Feier, als hierauf der Großherzog Friedrich von Baden mit hocherhobenem Helm und lauter Stimme das erste Hoch auf den neuerstandenen deutschen Kaiser ausbrachte, in das die Versammlung begeistert einstimmte. Zum ersten Male neigten sich die Fahnen und Banner des deutschen Heeres huldigend vor dem erkorenen Oberhaupte des ganzen Volkes. Als erster Untertan des Reiches aber trat der Kronprinz vor seinen Vater hin, um das Knie zum huldigenden Handkuß zu beugen, der Kaiser jedoch hob ihn empor, zog ihn an seine Brust und küßte ihn mit sichtlicher tiefer Bewegung auf beide Wangen … Nachdem der Kaiser die Glückwünsche der Fürsten entgegengenommen und die in der Versammlung anwesenden Generale, Offiziere und Beamten hatte an sich vorüber defilieren lassen, verließ er die Versammlung unter den festlichen Klängen des Hohenfriedberger Marsches.“
Wilhelm hatte Bismarck den Kaisertitelstreit derart übel genommen, daß er beim Herabtreten von dem erhöhten Stande der Fürsten seinen Kanzler, der allein auf dem freien Platze davor stand, ignorierte, an diesem vorbeiging, um den hinter ihm stehenden Generalen die Hand zu bieten.
Wie von Wilhelm befohlen, war sein Verbot der Verwendung des Titels „Deutscher Kaiser“ nicht nur von ihm und dem Großherzog konsequent eingehalten worden. Es war Wilhelm selber überlassen, noch am selben Tage in einem Befehl an seine Armee das Tabu mit der Formulierung zu brechen, daß er mit jenem Tage neben der „ererbten Stellung des Königs von Preußen auch die eines deutschen Kaisers“ einnehme. Seine gegenüber seinem Schwiegersohn am Morgen des 18. Januar 1871 ausgesprochene Drohung, sich später doch nur so zu nennen, wie er es will, „nicht wie Bismarck es bestimmen will“, hat er nie wahrgemacht.
Die Kaiserproklamation König Wilhelms I.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, nachdem die Deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reiches die seit mehr denn 60 Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen, und nachdem in der Verfassung des Deutschen Bundes die entsprechenden Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, daß wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem Rufe der verbündeten Fürsten und Städte Folge zu leisten und die deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Demgemäß werden wir und unsere Nachfolger an der Krone Preußen fortan den Kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen, und hoffen zu Gott, daß es der deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die
seit Jahrhunderten entbehrte Sicherheit gegen erneuten Angriff Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung. |
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