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Eminenz, kurz nachdem Sie 1993 Vorsitzender des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen geworden waren, rief der Papst die Kirche in Europa auf, ein Programm für die Neuevangelisierung des Kontinents zu entwickeln. Das erfordert ja zunächst eine Bestandsaufnahme: Wie sieht die Kirche heute die geistige Situation Europas?
Kardinal Vlk: Es ist klar und das Zweite Vatikanische Konzil hat es schon angedeutet, daß wir in einer tief säkularisierten Gesellschaft leben. Man hat vor zwanzig Jahren prophezeit, daß diese Säkularisierung ein Prozeß sei, den man nicht rückgängig machen könne. Aber in den letzten Jahren war zu spüren, daß die Religion nicht einfach von der Bildfläche verschwindet.
Man spricht jetzt von der "persistance of religion", also davon, daß die Religion einen festen Platz nicht nur in den Herzen, sondern auch in der Gesellschaft hat, und daß die Säkularisierung zu einer Leere in den Seelen führt, die nach Gott ruft.
Auch die Philosophen sagen: Der säkularisierte Mensch von heute sucht. Er sucht nach Gott, er sucht nach dem Sinn des Lebens. In der Europäischen Union spricht man von der Sehnsucht nach einer "Seele für Europa".
Den Politikern wird bewußt, daß die europäische Einheit von Politik und Wirtschaft allein nicht verwirklicht werden kann, daß man eine geistliche Dimension braucht. Jacques Delors hat sogar eine Stiftung "Seele für Europa" gegründet. Das heutige Europa sucht wieder nach seiner christlichen Dimension.
Sehen Sie das nicht zu optimistisch? Der europäische Durchschnittsbürger könnte doch auch denken: "Wir haben die Menschenrechte verwirklicht, vielleicht noch nicht perfekt, wir haben den Rechtsstaat, wir haben die Marktwirtschaft, wir leisten soziale Fürsorge. Eigentlich haben wir uns doch in Europa ganz gut eingerichtet. Wozu brauchen wir da noch Religion und Kirche?"
Kardinal Vlk: Trotz all dieser Errungenschaften fühlt sich der Mensch in der Globalisierung oft allein, vereinsamt. Es gibt eine Mediengesellschaft und doch zu wenig Kommunikation. Wir brauchen etwas, was die Herzen verbindet.
Vor 50 Jahren gingen die frühen antikirchlichen Verfolgungen in der Tschechoslowakei in die entscheidende Phase: Nachdem am 5. April 1950 mehrere hohe katholische Ordenspriester in einem Prozeß vor dem Prager Staatsgerichtshof wegen "Hochverrats, Spionage und Verschwörung" zu lebenslanger Haft bzw. 25 Jahren "schweren Kerkers" verurteilt wurden, schlossen die Kommunisten kurz danach einen Großteil der Klöster. Bis 1951 saßen über 300 Priester und vier Bischöfe im Gefängnis.
Trotz des starken Drucks und der Infiltration mit regimetreuen Klerikern sollte jedoch auch die tschechische und slowakische Kirche Jahrzehnte später eine wesentliche Rolle bei der "Samtenen Revolution" spielen. Zu ihren Wortführern gehörte Miloslav Vlk.
Nachdem er ein Jahrzehnt lang hauptsächlich als einfacher Fensterputzer gearbeitet hatte und ihm die Behörden die Ausübung des Priesteramtes verboten hatten, wurde Vlk im Frühjahr 1990 zum Bischof von Budweis geweiht. 1991 machte man ihn zum Erzbischof von Prag, und 1994 erhob ihn der Papst zum Kardinal. Seit 1993 amtiert Vlk als Vorsitzender des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen. (MS)
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