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Nur der Wald ist geblieben

 
     
 
Der Regen drohte alles zu verderben. Auch an diesem Morgen blickte Helmut zu einem aschgrauen Himmel auf, der seine Hoffnung auf Sonne und Wärme im Nu erstickte. Was hatte er Käthe nicht alles zeigen wollen - und nun ließ ihn das Wetter schmählich im Stich! Seit ihrer Ankunft hatten sie keinen einzigen wirklich schönen Tag erlebt. Mal schüttete es wie aus Kübeln, mal nieselte es verdrießlich vor sich hin, und wenn der Regen tatsächlich einmal eine längere Pause einlegte, drückte die geschlossene Wolkendecke aufs Gemüt und dämpfte jeden Unternehmungsgeist.

Es wurmte Helmut, daß ihm die Heimat wettermäßig so wenig entgegenkam. Statt stundenlang
durch Feld und Wald zu streifen, wie er es sich eigentlich erträumt hatte, brachten er und Käthe die meiste Zeit im Hotelzimmer zu, blätterten gelangweilt in Zeitschriften oder setzten sich mit den anderen Gästen zusammen, um bei einem Glas Wein zumindest für kurze Zeit das Rauschen des Regens zu verdrängen.

Besorgt betrachtete er die Hotelauffahrt, deren spiegelnde Schwärze noch vom nächtlichen Unwetter zeugte. Wenn das so weiterging, nahm er von dieser Reise in die Vergangenheit nicht mehr mit als die verschwommene Erinnerung an kurze Spaziergänge durch die Stadt, an Taxifahrten übers regendurchweichte morastige Land und an das schmerzlich-flüchtige Wiedersehen mit jenem Ort, dessen Namen er noch heute wie einen kostbaren Schatz im Herzen trug.

"Du bist schon auf?" Käthes verschlafene Stimme zerriß die Stille im Zimmer. "Wie ist denn das Wetter? Doch nicht schon wieder Regen?"

Er drehte sich nach ihr um, Schuldbewußtsein im Ausdruck. Sie, der er so viel vom ostdeutschen Klima vorgeschwärmt hatte, mußte ihn mittlerweile ja für einen rechten Aufschneider halten.

Sein verlegener Blick rief sie ans Fenster: "Du liebe Güte!" Ihre Augen huschten über die tückisch glänzende Hotelauffahrt. "Das sieht ja gar nicht gut aus!"

Irgendwie erwartete er, daß sich ihr Mund nun spöttisch kräuseln würde. Doch in dem Blick, den sie ihm schenkte, lag einfach nur Bedauern und Mitgefühl: "Du Ärmster, so ein Pech aber auch! Das ist nun schon der fünfte Tag, der ins Wasser fällt, nicht wahr?" Sie lächelte traurig. "Dabei hätte ich mir so gern euren herrlichen Wald angeschaut."

Die bloße Erwähnung des elterlichen Waldgrundstücks reichte aus, um Helmuts Augen aufleuchten zu lassen: "Es hätte dir bestimmt gefallen, dort spazierenzugehen. Allein schon die Luft, so rein und würzig! Und die Stille - einfach unbeschreiblich ...! 60 Morgen Kiefernwald, als Kind war ich mächtig stolz auf Vaters Besitz."

"Und bist es heute noch", sagte Käthe leise. Aufmerksam betrachtete sie das seltsam verjüngt wirkende Gesicht ihres Mannes: "Sei ehrlich - wenn du allein hier wärst, du würdest auf diesen Waldspaziergang doch selbst dann nicht verzichten, wenn s junge Hunde regnen würde?"

"Vermutlich nicht", erwiderte er wahrheitsgemäß. "Wenn ich auf dem Weg über die Felder auch klatschnaß werde - im Wald selbst ist man einigermaßen geschützt. Aber du ..." Er sah sie zweifelnd an. "Na, ich denke mal, keine Frau ist scharf darauf, sich Schuhe und Strümpfe zu ruinieren."

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann strafften sich Käthes Schultern: "Nach dem Frühstück spreche ich mit dem Portier. Vielleicht kann er uns helfen. Eins steht jedenfalls fest: Heute machen wir endlich unseren Waldspaziergang."

Keine halbe Stunde nach Käthes Unterredung mit dem Hotelportier klopfte es an die Tür, und das Zimmermädchen trat ein - auf dem Arm zwei Paar Gummistiefel, die zu Helmuts Verblüffung wie angegossen paßten.

"Gut, sehr gut! Jetzt können Sie das Wetter vergessen", nickte der Taxifahrer anerkennend, als er Käthe und Helmut wenig später dabei half, die "Expeditionsausrüstung" im Kofferraum seines Wagens zu verstauen.

Das Wetter vergessen ... ja, das wollte er. Und so galt Helmuts Blick nicht länger dem verhangenen Himmel, sondern der vor ihm liegenden Landstraße. Noch ein paar Kilometer, dann durfte er eintauchen in den zauberischen Ort seiner Kindheit.

Der Feldweg, an dem das Taxi die beiden entließ, hätte ihnen unter anderen Umständen wohl ziemlichen Schrecken eingejagt. Doch jetzt, in Gummistiefeln, die bis unters Knie reichten, machte es geradezu Spaß, durch Schlamm und Pfützen zu waten. Um zum Wald zu gelangen, mußten sie ein gutes Stück Acker- und Brachland durchqueren. Der Weg war als solcher kaum auszumachen, rutschig noch dazu, und so ließ Helmut die Hand seiner Frau gar nicht erst los. Freude durchströmte seinen ganzen Körper. Wenn er sich umdrehte, hatte er den Kirchturm seines Heimatdorfes im Blick, schaute er nach vorn, grüßte der Wald, "sein" Wald.

Wie eine dunkle, abweisende Wand erhob er sich vor ihnen. Dicht an dicht standen die riesigen Kiefernstämme, so, als wollten sie niemanden einlassen in ihr geheimnisvolles Reich aus Schweigen, Einsamkeit und grünem Dämmerlicht. "Wir kennen uns, nicht wahr?" raunte Helmut ihnen zärtlich zu, wobei seine Hand begrüßend über die schorfige Rinde strich.

Hoch über ihm ertönte leises Rauschen. Der Wind schien aufzufrischen. Denn tiefer als Helmut aus der Ferne, beim Gang über die Felder hatte beobachten können, neigten die Wipfel jetzt ihr Haupt. Er, der da so sehnsüchtig seinen Blick an den geraden, grauen Stämmen hinaufwandern ließ, legte dieses Beugen und Nicken zu seinen Gunsten aus - als Einladung, ruhig einzutreten ...

Während sie dem schmalen, stellenweise von hohem Farnkraut gesäumten Pfad folgten, hielt Helmut Ausschau nach vertrauten Wegzeichen. Wo war die große Lichtung mit den vielen Preiselbeerbüschen? Wo genau jene Stelle, an der die Kreuzotter gelegen hatte, über die er als Junge, im vollen Lauf begriffen, nach dem ersten Schreck einfach drübergesprungen war?

Irgendwann gab er es auf, an die Vergangenheit anknüpfen zu wollen. Und hatte er Käthe anfangs noch auf Moose und Flechten oder besonderes Gesträuch aufmerksam gemacht, so verstummte er nach und nach - ließ nichts mehr gelten als das ferne Rauschen windbewegter Wipfel.

Sie mochten eine knappe halbe Stunde gewandert sein, als der Himmel plötzlich aufklarte. Sonnenlicht sickerte durchs Geäst und zauberte helle Streifen auf den Waldboden. "Wie schön", lächelte Käthe. Helmut spürte ihren Blick, erwiderte aber nichts darauf, der eigenen Stimme jäh mißtrauend. Daß sich die Sonne doch noch zeigte und das zu einem Zeitpunkt, da er jedes Suchen und Vergleichen aufgegeben hatte und seine Sinne einzig auf die unveränderte Schönheit und ewig gleiche Sprache des Waldes ausgerichtet waren, dies war ein Geschenk im doppelten Sinn.

Käthe, die so gut in seinem Gesicht zu lesen verstand, griff still nach seiner Hand, und als Helmut ihren Blick jetzt erwiderte, fand sich all das, was er selbst empfand, im warmen Braun ihrer Augen wieder.

Richard Birnstengel, der Maler aus Dresden, der die Kurische Nehrung so liebte, schuf dieses Bild der wartenden Frauen am Ostseestrand. Das Motiv ist als Blatt für den Monat Februar im neuen Kalender "Ostdeutschland und seine Maler" enthalten. Auch für das Jahr 2005 wurden wieder bekannte und weniger bekannte Künstler gefunden, die mit einem typischen Werk in diesem Kalender vertreten sind: Ernst Bischoff-Culm, Hans Kallmeyer, Karl Storch d. Ä. oder Maria Schlachta-Samuel, um nur einige zu nennen. Leser der Freiheits-Depesche können auch dieses Mal wieder den beliebten Begleiter durch das Jahr zu einem besonderen Preis erwerben. Bis zum 30. September gilt der Subskriptionspreis von 18,50 Euro einschließlich Versandkosten (im Buchhandel später 20,50 Euro). Bestellungen bitte direkt an den Schwarze Kunstverlag, Richard-Strauss-Allee 35, 42289 Wuppertal, Fax (02 02) 6 36 31.

 
     
     
 
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