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Nur raus hier

 
     
 
30. Januar 1945. Es ist ein kalter Wintertag. Die "Wilhelm Gustloff" ist auf dem Weg von Gotenhafen nach Kiel. An Bord befinden sich 10 582 Menschen. Fast 9000 davon sind Flüchtlinge aus Ostdeutschland, Westpreußen, Danzig und Pommern. Alle Kammern sind überbelegt. In jedem der großen Säle liegen Hunderte. Die letzten fanden nur noch Platz in den Gängen und 175 Marinehelferinnen im Schwimmbad.

Ich gehöre seit elf Monaten als Zahlmeister-Assistent zur Stammbesatzung des ehemaligen "Kraft durch Freude
"-Schiffes; mit achtzehneinhalb Jahren bin ich einer der jüngsten.

Es ist 21.16 Uhr. Das Schiff befindet sich auf der Höhe von Stolpmünde, zwölf Seemeilen von der pommerschen Küste entfernt. Ich sitze in meiner Kammer; sie liegt im B-Deck, wenige Meter über der Wasserlinie – da trifft ein gewaltiger Schlag das Schiff, schleudert mich an die Wand, raubt mir den Atem. Dann folgt ein zweiter, dann ein dritter Stoß. Der Fußboden unter mir scheint sich aufzubäumen. Bücherregale und Bilder fallen von der Wand. Das Licht verlöscht. Der Motorenlärm ist verstummt. Das Schiff ist bewegungslos, hat Schlagseite nach Backbord. Nach Augenblicken des Entsetzens wird mir bewußt: Das waren drei Torpedotreffer.

Ein Ruck geht durch das Schiff. Es beginnt zu sinken. Ich spüre es förmlich. Mein nächster Gedanke: Nur raus hier! Mantel an, Schwimmweste um, versuche ich die verklemmte Kammertür aufzureißen. Mit äußerster Gewalt gelingt es mir.

Draußen auf dem Gang ein Höllenlärm. Es riecht nach Detonationsgasen. Das Notlicht springt an. Es zeigt eilende, um Hilfe schreiende Frauen, weinende Kinder, ratlose Alte, langsamer gehend, noch nicht begreifend, was geschehen ist.

Mühsam erreiche ich die breite Treppe vom B-Deck nach oben. Ein Chaos erwartet mich. In dem für 1500 Passagiere gebauten Schiff wollen zur gleichen Zeit drei-, vier- oder fünftausend Menschen nach oben. Denn dort hängen die Rettungsboote. Viel zu wenig für alle.

Der Kampf um jede Treppenstufe ist ein Kampf um Leben oder Tod. Wer hinfällt, ist verloren. Eine irrsinnig schreiende Menschenmasse drängt nach oben. In Todesangst entwickeln Menschen Riesenkräfte. Stärkere schlagen brutal Schwächere nieder. Kinder fallen, Mütter fallen, Alte brechen zusammen. Niemand kann sie aufheben. Wer sich bückt, wird niedergetrampelt. Rücksichtslos drängt die Masse über die Zusammengebrochenen hinweg. Szenen des Grauens im spärlichen Licht der Notbeleuchtung. Entsetzliche Schreie. Ein Brüllen Todgeweihter. Kommandos von Offizieren gehen im Chaos unter. Die Panik rast.

Sind das noch Menschen, die so brutal und rücksichtslos nach oben stürmen? Und ich bin mitten unter ihnen ... Eingeklemmt in ein Menschenknäuel werde ich nach oben getragen. Jedesmal, wenn ich unter meinen Füßen einen sich noch windenden Menschenleib spüre, würgt es mich in der Kehle. Ich ringe nach Luft, werde gestoßen, gezerrt, getreten, verliere einen Schuh. Mein Mantel ist mir schon vorher vom Leib gerissen worden. jetzt reißt mir jemand einen Ärmel aus meiner Uniformjacke. Jeder versucht, sich an dem anderen festzuhalten. Die Hölle kann nicht schlimmer sein. Von unten her dröhnt das Rauschen der einbrechenden See. Jedesmal, wenn ein Schott bricht, nimmt die Schlagseite zu. Danach schwillt das Geschrei der ums Überleben kämpfenden Menschen an, wird noch lauter, noch entsetzlicher. Immer größere Menschenmassen drängen von unten nach. Alle haben nur ein Ziel: die Rettungsboote.

Endlich bin ich oben, sehe eine offene Tür, werde mit einem gewaltigen Stoß auf das vereiste Obere Promenadendeck geschleudert, eisige Nachtluft empfängt mich. Ich stehe auf, halte mich an der Reling fest, blicke nach oben. Rote Leuchtraketen zischen vom Brückendeck in die Luft, zeigt an: die "Gustloff" sinkt – SOS – rettet unsere Seelen!

An mir vorbei hastet eine Frau im Nachthemd, an jeder Hand ein Kind mit sich ziehend. Trotz des Verbots hat sie sich entkleidet, und alle drei sind ohne Schwimmwesten, suchen das nächste Rettungsboot. Jetzt wird mir meine Pflicht bewußt. Ich bin der Steurer des Rettungsbootes Nr. 5. Zigmal haben wir in den letzten Monaten Bootsmanöver durchgeführt, den "Ernstfall" geprobt. Jetzt ist er da. Über das vereiste Deck bemühe ich mich, zu meinem Boot zu kommen. Vor mir, hinter mir, um Hilfe schreiende Frauen und Kinder. Dazwischen laut gebrüllte Kommandos: "Nur Frauen und Kinder in die Boote!" Endlich bin ich bei den Booten. Erschrecke. Die Boote sind nicht ausgeschwungen, hängen noch in den Davits. Die Davits sind vereist. Matrosen versuchen, das Eis loszuklopfen. Das kostet Zeit. Vor jedem Boot hunderte ungeduldiger Frauen und weinende Kinder, die gerettet werden wollen.

Da ist mein Boot Nr. 5. Ich kämpfe mich durch die Masse der Umstehenden bis an das Boot. Es ist bereits voll besetzt und wird gefiert. Vor dem Boot ein Marineoffizier. Ich schreie ihn an: "Ich muß ins Boot – ich bin der Steurer." Der Mann bohrt mir die Pistole in die Brust: "Kein Mann kommt ins Boot. Zurück oder ich schieße." Ich weiche der Gewalt. Die 70 oder mehr Frauen und Kinder im Boot sind sich auf der offenen See selbst überlassen.

Kaum zur Besinnung gekommen, packt mich jemand am Ärmel. Es ist der alte ostdeutsche Pfarrer, den ich am Vortag an Bord kennengelernt hatte. "Los, kommen Sie!" schreit er mir zu. "Wohin?" frage ich. Keine Antwort. Er zieht mich mit. Es ist ein beschwerlicher Weg bis zur Wöchnerinnenstation auf dem Sonnendeck. Wir haben achtzig Schwangere an Bord und fünf an Bord geborene Säuglinge. "Hier, nehmen Sie!" Der Pfarrer reicht mir ein Deckenbündel; er selbst trägt eine Frau. Wir bringen unsere Last zu einem von zwei Marineleuten bewachten reservierten Boot, hasten zurück, um Gleiches zu tun. Zur gleichen Zeit wird das Notlazarett, die "Laube", geräumt. 162 schwerverwundete Soldaten lagen dort. Sie werden, wenn sie sich nicht selbst bewegen können, von Sanitätern zu den Booten gebracht, die Sanis haben es eilig. Denn niemand weiß, wann die "Gustloff" kentert und alles mitnimmt, was dann noch an Bord ist.

Lange kann es nicht mehr dauern. Jetzt erst sehe ich, daß die "Gustloff" bereits bis zum Unteren Promenadendeck gesunken ist. In dieses Deck hatte man über tausend Menschen abgedrängt, um ein noch größeres Chaos am Oberdeck vor den Booten zu verhindern; sie sollten warten, bis Rettungsschiffe eingetroffen sind. Doch das Schiff sank schneller. Jetzt hämmern die Totgeweihten vergeblich an die nicht zu öffnenden Panzerglasscheiben, ertrinken in diesem gläsernen Sarg. Durch eine vom Wasserdruck zersprengte Scheibe werden zwei Frauen in die See geschleudert, überleben wie durch ein Wunder.

Die Schlagseite ist jetzt so stark, das man an Deck nicht mehr gehen kann. Ich befinde mich auf dem Oberdeck, klammere mich an die Aufbauten. Wenige Meter von mir hält sich ein braununiformierter Parteimann fest, neben ihm seine Frau und zwei Kinder. "Mach ein Ende mit uns!", schreit die Frau. Der Mann zieht seine Pistole, erschießt die Kinder, dann seine Frau, drückt die Pistole an die eigene Schläfe – der Knall bleibt aus, das Magazin ist leer. "Geben Sie mir Ihre Pistole", schreit er zu mir herüber. "Ich habe keine"! antworte ich. Er verliert den Halt, rutscht über das vereiste Deck nach unten, lebend seiner toten Familie nach … Mich schaudert. Ist Selbstmord der letzte Weg, dem Tod des Ertrinkens zu entkommen? Blitzschnell kommt mir ein Gedanke: Auf dem Sonnendeck hatte man wenige Tage vor dem Auslaufen einige hundert Metallflöße gestapelt. Vielleicht sind noch nicht alle über Bord. Minuten später krieche ich in ein Floß, von dem noch viele vorhanden sind, weil niemand da war, die schweren Flöße über Bord zu hieven.

In dem Floß liegt bereits ein beinverletzter Panzersoldat mit Kopfverband. "Kamerad, erschieße mich, ich kann nicht schwimmen!" Ich gebe ihm Hoffnung. "Wenn das Schiff sinkt, trägt das Wasser das Floß in die See!"

Auch ich glaube das, krieche in das nächste Floß. In diesem liegt eine junge Marinehelferin. Sie fleht mich an.

Da passiert es … Ein gewaltiger Ruck geht durch das Schiff, es sackt nach vorn, die Schlagseite nach Backbord beträgt jetzt sicher schon 30° oder mehr. Eine riesige Woge rauscht auf mich zu, reißt mich aus dem Floß in die eiskalte See, in Nacht und Sturm.

In diesem Augenblick verspüre ich nicht die Kälte des Wassers, zwei bis drei Grad plus, doch den Wind und die Kälte der Luft: 18 Grad unter Null. Ich weiß: wenn ich in den nächsten Minuten kein Floß oder Boot erreiche, das mich aufnimmt, bin ich ein toter Mann.

Um mich herum sehe ich nur schwimmende Köpfe, hunderte, im Wasser treiben. Große und kleine Köpfe – Kinderköpfe. Aber auch Kinderbeinchen über dem Wasser, die Schwimmweste hat die Köpfe der Kleinen unter Wasser gedrückt.

Das kann doch nicht das Ende sein … Ich will überleben, krieche auf ein Zweimann-Floß, falle herunter, weil ein anderer das gleiche versucht. Da taucht neben mir ein großes Floß auf, ein Marine-Sanitäts-Oberfähnrich in voller Montur packt mich, zieht mich auf sein Floß. Er wurde zu meinem Lebensretter. Erst 52 Jahre später, auf den Tag genau am 30. Januar 1997, finde ich ihn und sehe ihn wieder.

Kaum auf das Floß gerettet, steigt ein grauenhaftes Bild aus dem Dunkel der Winternacht. Unfaßbares geschieht, läßt den Tausenden Schiffbrüchigen, die im Wasser treiben oder sich auf Flößen und Booten gerettet fühlen, das Blut in den Adern erstarren. Die Blicke aller sind jetzt auf die "Gustloff" gerichtet. Wie von Geisterhand bedient, ist mit einem Schlage die gesamte Schiffsbeleuchtung angesprungen – in vollem Glanz der heiteren Friedensjahre erstrahlt der sinkende Schiffskoloß, spiegelt sich tausendfältig in der schäumenden See, neigt sich, den Bug voran, den Wellen zu, versinkt in der Ostsee.

Über das zwanzig Meter breite Sonnendeck fallen die Menschen, einzeln, in ganzen Bündeln, sich aneinanderklammernd, von der Lichtflut geblendet, über Bord. Polternd sausen Flöße und die an Oberdeck kurz vor dem Auslaufen eiligst aufgestellten Flakgeschütze über Deck, stürzen in die Menschentrauben hinein.

Da – ein erneuter Spuk. Ein langgezogener Heulton erfüllt die Luft, wird leiser, heiserer. Die Sirene kündet den Untergang der "Gustloff" an. Dann erstickt das Meer das Heulen der Sirene, verlöscht das Licht.

Das Schiff ist tot, versinkt vollends in den Fluten. Ein riesiger Wellenberg schlägt über der "Gustloff" zusammen, erstickt den allerletzten Schrei.

Es ist 22 Uhr und 18 Minuten. 62 Minuten nach dem ersten Torpedotreffer sinkt die "Gustloff" auf den Grund der Ostsee, in 42 Meter Tiefe.

Den Mannschaften von neun Kriegs- und Handelsschiffen gelingt es bis in die Morgenstunden des nächsten Tages hinein, 1 252 Schiffbrüchige dem Tod zu entreißen, 13 sterben kurz nach der Bergung. Die 1 239, die überlebten, gehen in Gotenhafen, Kolberg, Saßnitz und Swinemünde von Bord der Rettungsschiffe, viele müssen getragen werden. Erst 53 Jahre nach dem Untergang wird das tatsächliche Ausmaß dieser größten Schiffskatastrophe bekannt: Von den 10 582 Passagieren, die sich bei der letzten Reise der "Wilhelm Gustloff" an Bord befanden, fanden 9343, darunter mehr als 800 Flüchtlinge, davon mehr als die Hälfte der Kinder, den Tod.

Noch nie, seitdem Schiffe die Meere befahren, haben bei einer Schiffskatastrophe so viele Menschen ihr Leben verloren.

Wer erinnert sich heute noch an die Toten der "Wilhelm Gustloff"? Wer setzt diesen Kriegsopfern, den Frauen, Kindern und alten Menschen, die vor der Roten Armee aus ihrer angestammten Heimat – aus Ostdeutschland, Westpreußen, Danzig und Pommern – flohen, um Leid und Tod zu entgehen, ein Denkmal?

Gehört der Tod dieser Opfer des Zweiten Weltkrieges nicht auch zu der "Öffentlichen Erinnerungs-Kultur", die sich heute Politiker wünschen?

Wer die Todesfahrt der "Wilhelm Gustloff" und die Nacht des Grauens auf der Ostsee in der Winternacht vom 30. zum 31. Januar 1945 miterlebt und überlebt hat, wird die Toten der "Gustloff" nie vergessen.

Mich begleitet das Schicksal dieses Schiffes und das Erlebte bis zum heutigen Tag, und in manchen durchwachten Nächten, wenn die Erinnerung wieder lebendig wird … Heinz Schön ist Autor des im Motorbuch-Verlag Stuttgart erschienenen Buches "SOS Wilhelm Gustloff".

 
     
     
 
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