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An einem schon recht kühlen Herbstmorgen mache ich mich mit meinem Begleiter Sergej Belantschuk auf, um endlich mein Vorhaben zu verwirklichen: die Besichtigung von Schloß Holstein.
In Richtung Pillau an der Juditter Kirchenstraße vorbei fahrend, überqueren wir zunächst die überdimensionale nach 1945 erbaute Straßenbrücke über die Pillauer Bahn. Wir biegen gleich danach links ab in Richtung Pregel. Das Wetter macht mir etwas Sorgen, denn von Westen her kündigt sich eine schwarze Wolkenwand an. Wir fahren über total zerwühltes Pflaster, zu beiden Seiten verkommene Landschaft, versauertes Wiesengelände, durchsetzt mit Weiden gestrüpp, Müll und Bauschutt. Der Pregel wird sichtbar, eine großartige Kulisse liegt vor uns. Dieser Strom, der mich in meiner Jugend so faszinierte - ein fast bedrückendes Wieder- sehen. Er kommt mir fremd vor, die durch die Jahrzehnte erfolgten Veränderungen der Uferlandschaft mildern meine erste Begeisterung. Der alte Holsteiner Damm setzt sich erst ab dieser Straßeneinmündung wieder fort. Jetzt begreife ich plötzlich die abrupte Sperrung dieser Uferstraße bis zu dieser Stelle. Auf der gegenüberliegenden Pregelseite, etwas stromaufwärts, erkenne ich vor dem inzwischen sehr erweiterten Werftgelände der früheren Schichau-Werft am Ausrüstungskai einen noch nicht ganz fertiggestellten Neubau eines - offensichtlich schwer bewaffneten - Raketenkreuzers. Der Farbanstrich ist ein Gemisch aus Rostrot und Schwarz, das Schiff ist im Gegenlicht und bei der etwas größeren Entfernung nur schwer zu erkennen. Wahrscheinlich erfolgte wohl deswegen ab der Arndtstraße flußabwärts die Vollsperrung des Holsteiner Damms, über die ich mich schon seit geraumer Zeit gewundert hatte. Hier wurden und werden also heute noch die Schiffe der Baltischen Flotte gebaut.
Wenn man weiter nach Westen am Pregel entlang fährt, erahnt man in der Ferne bereits die Einmündung des Stromes in das Frische Haff. Am Ufer befindet sich ein Konglomerat von großen Granitfindlingen, mehr oder weniger teils über - teils unter der Wasseroberfläche, dann wahllos herumliegende Betonteile - alles vermengt mit dem üblichen Müll und Schutt. Das Wasser des Pregels von der Trübung her gesehen in der entsprechenden Qualität. Entsetzlich der Gedanke, daß die Stadt hieraus immer noch ihr Trinkwasser bezieht. An der gegenüberliegenden Unterseite sind ganz vereinzelt Schiffe an Duckdalben vertäut, ein kleinerer herrlicher alter Oldtimer liegt mit leichter Schlagseite auf der erhöhten Uferböschung - ich versuche zu fotografieren, doch das starke Gegenlicht raubt mir bei der Entfernung die Chancen. Und dann Wiesen, verödet zwar, aber doch ein Bild an einstige Zeiten erinnernd. Die wunderbaren Wiesenlandschaften auf der diesseitigen, nördlichen Uferseite, die mir von damaligen Fahrradtouren noch gut in Erinnerung sind, sind wegen des auch hier wuchernden, die Einblicke verdeckenden Erlen- und Weidengestrüpps kaum noch wahrzunehmen. Ein Angler hat sich auf eine aus dem Wasser ragende wuchtige, jedoch undefinierbare Betonkonstruktion vor einen dort verankerten mächtigen Mast gesetzt. Wir landen plötzlich in der Kehre, es geht nicht mehr weiter - ich habe vor lauter Aufregung die Abzweigung nach Holstein vergessen. Wir fahren zurück, biegen nach einem kurzen Stück links ab und finden den richtigen Weg. Wir fahren auf einige Gebäude zu und stehen dann zweifelnd und deprimiert vor dem kaum mehr wiederzuerkennenden und brutal zugerichteten Schloß Holstein.
Kurfürst Friedrich III., der spätere erste preußische König Friedrich I., ließ es sich 1693 als Jagdschloß von Johann Arnold Nehring erbauen. Seinerzeit war es der bedeutendste Bau des Hochbarock in Ostdeutschland. Der Anblick heute ist wirklich erschreckend. Die bekannten drei hohen Rundbogenfenster, wie sie Nehring schon beim Charlottenburger Schloß und an der Spreefront des Stadtschlosses in Berlin verwandte, sind total verschwunden. Das steile Dach mit seinen hohen Schornsteinen ist einem banalen Walmdach mit Wellasbestdeckung gewichen. Säulenvorsprünge, Risalite und Gurtgesimse sind abgeschlagen und nur noch in Andeutungen kaum sichtbar. Ein Gebäude voller Vergangenheit wurde zum heruntergekommenen Profanbau degradiert. Hier wird sie sichtbar, die von der Sowjetunion noch unter Leonid Breschnew verordnete totale Auslöschung deutscher Kultur.
Von der Südseite hatte man früher einen schönen Blick durch den Park auf den Pregel, heute ist alles zugewuchert. Und dann sind die düsteren Regenwolken über uns, es schüttet plötzlich in Strömen, dazwischen Gewitter. Sergej und ich suchen Schutz in einem alten Schuppen. In dem Gebäude gehen hinter primitiven Normfenstern die Lichter an, Leuchtstoffröhren mit kaltem Licht - ein gespenstischer Anblick. Schnell endet der Guß, die Sonne scheint wieder, wir fahren weiter durch den beginnenden Herbst.
Wir kommen in das alte Dorf Groß Holstein, alles ziemlich verfallen. Unterwegs herumlaufende Kühe, im Gegenlicht mit dampfenden Körpern. Wunderbare Spiegelung im alten Dorfteich mit abziehenden dunk-len Gewitterwolken hinter farbigem Herbstlaub der Bäume. Ringsum lauter kleine Häuschen - Datschen in zugewucherten Gärten. Sergej führt mich zu einem alten Fort, umgeben mit einem breiten Festungsgraben und hohem Eisenzaun, ich hatte es noch nie gesehen.
Zurück zum Holsteiner Damm wollen wir jetzt noch einmal Richtung Pregelmündung fahren. Im Hintergrund im Dunst erscheint das Frische Haff mit Blick bis zum Horizont. Die Mündung des Pregels war damals die Stadtgrenze Königsbergs nach Westen. Wir parken unser Auto an der Kehre und gehen zu Fuß am Ufer entlang auf einem Trampelpfad am Rand des Wiesengeländes. Rechter Hand ein Klinkerbau aus den 20er Jahren, ein Stück Industriearchitektur, an das ich mich nicht erinnern kann. Sergej erzählt mir, daß hier vor der russischen Eroberung Teile für die Raketentechnik hergestellt wurden. Der kleine Spaziergang wird langsam gebremst - es stinkt bestialisch! Ich erinnere mich, daß dies früher auch schon ähnlich der Fall war - doch nicht so penetrant. Irgendwo gab es hier die Rieselfelder, wo die Kloake der Stadt landete, doch das alles wurde sehr viel besser geklärt, sogar Gemüse wurde damals auf den Feldern angebaut. Hier aber fließt eine entsetzlich stinkende Kloake ungeklärt in den Pregel!
Wir weichen zurück. Als wir an zahlreichen Anglern vorbeikommen, nehmen wir einige kleinere Schiffe wahr, die über das Haff kommend den Königsberger Hafen ansteuern. Rechter Hand, schon etwas draußen auf dem Haff, auf einer schilf-bewachsenen Insel, sehen wir ein schwarz-weiß markiertes Seezeichen, das den südlichen Bereich des Seekanals kennzeichnet. Dahinter erkenne ich einige Baumgruppen und davor das von Seglern "weißer Mann" bezeichnete alte Seezeichen. In seinem Steingrau ist es ein Relikt aus der Zeit vor der Erstellung des gleich nach der Jahrhundertwende eröffneten Königsberger Seekanals. Ein schönes Bild - Erinnerungen werden wach.
Wir fahren wieder den Holsteiner Damm zurück. Auch hier stoßen wir wieder auf zahlreiche, teilweise auf den unmöglichsten Plätzen sitzende, Angler, die in stoischer Ruhe auf ihr Glück hoffen. Die nach Südosten abgezogene Gewitterfront spiegelt sich im Strom. Das Wasser ist spiegelglatt, die Luft glasklar, die Landschaft in wunderbares Licht getaucht. Drüben flußaufwärts zeigt sich wieder die Schichau-Werft. Am Ende der Uferstraße biegen wir wieder nach Norden ab. In der Ferne zeigt sich der Turm der Juditter Kirche. Nach kurzer Fahrt kommen wir unter Umgehung der zahlreichen Schlaglöcher abermals auf die Juditter Allee und machen uns auf den Weg in Richtung Stadt zu unserer nächsten Tour. |
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