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Seiltänze der Seele

 
     
 
Der große alte Mann der estnischen Literatur, Jaan Kross, hat mit seinem Werk auch gegen die Chancenlosigkeit kleiner Kulturen und Literaturen angekämpft.

Die diversen Übersetzungen von Romanen des 1920 in Reval (estn.: Tallinn) geborenen Autors ins Deutsche haben wesentlich dazu beigetragen, das europäische Interesse für diese „Peripherie“ und ihre urwüchsigen Impulse zu wecken.

Bei den bekanntesten Romanen von Kross - dem „Verrückten des Zaren“ sowie „Das Leben des Balthasar Rüssow“ - stehen in sich gespaltene Protagonisten im Mittelpunkt. Im „Verrückten des Zaren“ ist es ein Mann mit zwei Seelen in seiner Brust, die sich aber nicht gegenüberstehen, sondern ergänzen.

Da ist seine deutschbaltische Seele, die an den Idealen der Aufklärung hängt, und seine estnische Seele - die Liebe zu einem estnischen Bauernmädchen -, die ihm einen ganz neuen Zugang zu seiner Heimat Estland und ihrer Mehrheitsbevölkerung
ermöglicht.

Jaan Kross hat in der Gestalt des Estländers Timotheus von Bock, im Roman Timo genannt, einen historisch Verbürgten gewürdigt, denn diesen Timotheus Eberhard von Bock hat es tatsächlich gegeben. Er lebte 1787-1836, war 1812 im Befreiungskrieg gegen Napoleon Rittmeister, stieg 1813 zum Oberst auf und wurde von Zar Alexander I. (1777-1825) in dessen Nähe gezogen.

Der Zar nahm von Bock das Versprechen ab, daß dieser ihm immer die Wahrheit zu sagen habe, was zur Katastrophe führen mußte, als der idealistische, der Aufklärung anhängende Offizier 1818 eine Konstitution für Rußland entwarf und diese zusammen mit einer Denkschrift über den Despotismus des Zaren diesem zukommen ließ.

Der Zar, unfähig den Reformwillen zu entdecken, sah nur eine Majestätsbeleidigung und ließ von Bock in die Gefängnisfestung Schlüssel werfen, wo dieser bis 1828 gefangengehalten wurde, bis ihn der neue Zar Nikolaus I. (1796-1855) begnadigte. Ein Paradox der Geschichte, denn Nikolaus I. war ein noch schlimmerer Autokrat als sein Vorgänger Alexander I., der immerhin versucht hatte - wenn auch erfolglos - liberale Reformen einzuführen. Deshalb auch das Mißverständnis von Bocks, der diese Versuche überbewertete.

Nikolaus I. unterdrückte sofort nach seinem Machtantritt 1825 den Dekabristenaufstand, warf 1830/31 den Polenaufstand nieder und veranlaßte auch noch den Krimkrieg von 1853 bis 1856.

Als gebrochener und geistig verstörter Mann kehrte von Bock auf sein Gut Woiseck zurück, wo er 1836 im wirklichen Leben durch Selbstmord endete, während er bei Kross eines rätselhaften Todes stirbt. Dieses für russische Revolutionäre und Reformer typische Schicksal versteht Jaan Kross geschickt in ein fiktives Tagebuch des Jakob Mattik hineinzulegen, des Bruders von von Bocks estnischer Frau Eeva. Mattik beginnt dieses kurz nach der Rückkehr von Bocks auf sein Gut, erforscht die Geschichte seines Schwagers und stößt auf dessen Memorandum mit dem Kernsatz „Rußland braucht Bürger. Sklaven hat es mehr als genug“.

In Wirklichkeit hatte von Bocks Frau keinen Bruder, sondern eine Schwester. Der fiktive Bruder erweist sich aber als lebendige Gestalt im Roman und zeugt vom Talent des Autors, die historische Wahrheit auch als erfundene Wahrheit zu veranschaulichen.

In seinem umfangreichsten Prosawerk „Das Leben des Balthasar Rüssow“ wird das Subversive der Schreibweise Kross‘ gegenüber dem Totalitarismus sehr deutlich. Der aus dem estnischem Bauerntum zum Geistlichen aufgestiegene Held wird Verfasser der „Livländischen Chronik“. Um diese zustande zu bringen, ist er auf Informationen angewiesen und gerät so ins Visier der schwedischen Obrigkeit, die ihn zur Zusammenarbeit zwingt. Die auf Verlangen der Obrigkeit nachträglich eingebauten Huldigungen an den Schwedenkönig werden durch ihre Übertreibungen zu einer herrlichen Veräppelung des totalitären Personenkultes.

Auch in Balthasar Rüssows Brust schlagen zwei Herzen. Er heiratet aus Liebe eine deutsche Kaufmannstochter, ohne jedoch seine bäuerlichen estnischen Wurzeln zu verleugnen. Dies veranlaßt ihn, unter Lebensgefahr die aufständischen Bauern zu unterstützen.

Als Junge hatte Rüssow entdeckt, daß Seiltänzer einen Muttrank zu sich nahmen, in dem immer der Tau des Landes enthalten sein mußte, in dem sie gerade auftraten. Rüssow trinkt von einem solchen Zaubertrank (ein Motiv, das man sonsten aus der keltischen Volksüberlieferung kennt) und glaubt von da ab an seine übernatürlichen Kräfte, die es ihm ermöglichen, sich seiner vorgeschriebenen Lebensbahn als unterdrückter Este entwinden zu können, ohne zu ahnen, daß dies oft einem Tanz auf dem Seil gleichen wird. Ingmar Brantsch (DOD)

 
     
     
 
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