|
Wie Perlen an einer langen Bernsteinschnur lagen sie aufgereiht, die Seebäder des Samlands zwischen Cranz und Neuhäuser. Wer sie je einmal in stillen Friedenszeiten erlebt hatte, vergaß sie nie. Für viele Gäste - gleich ob aus Ostdeutschland oder von irgendwoher - wurden sie zu Ferienparadiesen. Diese Erinnerungen erwecken eine Handvoll alter Prospekte, die schon vor siebzig und mehr Jahren die Schönheiten der Samlandbäder anpriesen. Und die heute aufzeigen, daß auch die kleineren Seebäder damals schon wußten, welche Informationen den erhofften Gästen geboten werden mußten. So wie Georgenswalde mit Warnicken an der schluchtenreichen Steilküste des Samlandes.
"Wo an Ostdeutschlands Ostseeküste sich uralter Wald bis zum Meer drängt, wo der Hang sich steil aus dem Wasser hebt und dennoch Raum gibt einem schönen, breiten, weißleuchtenden Sandstrand - da blicken die Häuser von Georgenswalde weit hinaus über die See", ist in dem rechts abgebildeten Prospekt aus den 30er Jahren zu lesen. Georgenswalde gibt sich bescheiden gegenüber den größeren Schwestern Rauschen, Neukuhren und Cranz mit seinem mondänen Badeleben. "Es ist ein stilles Bad, ein Bad, in dem Ruhe und See, Wald-Atem, Sand und Sonne die rechte Voraussetzung zur Erholung, zum Ausspannen schaffen. Georgenswalde ist ein Erholungsort von Anbeginn. Jener Gutsherr, der einst als erster hier sein Wohnhaus baute und so der Gründer Georgenswaldes wurde, wußte, warum er sich gerade dieses schöne Fleckchen Erde aussuchte. Georgenswalde ist sich treu geblieben."
Aber ein Kurhaus hatte man schon, und es gab auch Kurkonzerte, Kinderfeste und Gastspiele des "Kurtheaters Samland". Das waren aber auch die einzigen Veranstalt ungen, die im Laufe der Saison durchgeführt wurden. Außer dem Kurhaus führt der Prospekt noch drei Hotels - "Waldhaus", "Meeresblick" und "Vier Jahreszeiten" -, das Fremdenheim Schories, die Privatpension Herzlenchen - seine Besitzerin hieß wirklich Helene! - und die Gaststätte Dombrowski auf. Das Bettenangebot verstärkte sich durch die möblierten Privatzimmer in Georgenswalde auf über 330. Hinzu kamen die im nahen Warnicken - damals mit Georgenswalde zu einem Kurort zusam- mengeschlossen - vorhandenen rund 100 Gästebetten, von denen sich die Hälfte im Gasthaus Warnicken befand.
Diese Zahl erscheint enorm hoch für den kleinen Ort, der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg knapp 800 Einwohner zählte. Aber Georgenswalde hatte sich seit der Jahrhundertwende, als die Samlandbahn ihre Strecke Königsberg - Warnicken eröffnete, zum Villenort entwickelt. 1908 wurde die Villen-Kolonie Georgenswalde gegründet, vier Jahre später waren schon 80 Baustellen verkauft. Es entstanden schöne Landhäuser und Villen, deren Besitzer ein oder zwei Zimmer an Kurgäste vermieteten. In traumhafter Lage, denn viele dieser Häuser waren nur ein- oder zweihundert Meter vom Meer entfernt. Die meisten hatten Namen wie "Villa Marie" oder "Haus Sonnenschein"...
Kurtaxe mußte aber auch damals schon bezahlt werden. Sie betrug während der Hauptsaison in Georgenswalde für die erste Person 40 Pfennig, für die zweite 30 Pfennig, für die weiteren Familienmitglieder 10 Pfennig - pro Tag. Kinder unter sechs Jahren blieben kurtaxenfrei. Warnicken nahm dagegen nur die Hälfte! Auch Strandkörbe gab es für 80 Pfennig pro Tag - oder 18 Mark monatlich zu mieten. Wer nicht in der See baden wollte oder konnte, ging in die Seebadeanstalt. Das Vergnügen kostete nur 20 Pfennig, im Block war es noch billiger.
Damals war das Auto noch nicht jedermanns Gefährt - obgleich der Prospekt ein "Netz neuer Straßen" anpreist - und der Kurgast wußte, wozu er Füße hatte. Und die gebrauchte er gründlich auf den schönsten Wanderwegen, die das Samland bieten konnte. Also wurden auch Ausflüge mit Führungen offeriert. Etwa zu den großen Katzengründen, über Rauschen nach dem Karlsberg oder nach dem kleinen Hausen - und das war immerhin eine Tagestour.
Was der Prospekt leider verschweigt, sind die Schluchten, die gerade die nördliche Samlandküste zu einer der schönsten und eigenwilligsten Landschaften der Ostseeküste machen, wie schon ein Reiseführer aus dem Jahr 1910 bekundet. Wo gibt es sonst solch eine Vielzahl von wild-romantischen Schluchten? Gausupschlucht, Wolfskessel, Detroitschlucht, Blaue Grotte, Götterhain, Elisenhöh, Fuchsschlucht, Königshöhe, Collisschlucht ... Eine der einfühlsamsten Schilderungen ihrer archaischen Schönheit gibt der Welthistoriker Ferdinand Gregorovius, Sohn Neidenburgs, in seinen Mitte des 19. Jahrhunderts geschriebenen "Idyllen vom Baltischen Ufer". Er verlegt sogar das Paradies - "ganz im Ernst" - in das Samland! "Tiefe Schluchten, wie Rügen sie nicht hat, zerreißen hier das Gestade und bilden groteske Uferformationen. Die Gossupschlucht, ein dichtes Waldgelände mit einer quelldurchrieselten, in das Meer hinabgehenden Kluft, deren eines Ufer sandig ist, während das andere von den schönsten pittoresken Waldgruppen überdeckt ist ... Die Schlucht von Georgenswalde ist eine der schönsten des Samlandes, weil sie eng zwischen steilen Uferwänden in den mannigfachsten Windungen fortläuft, überwölbt von himmelanstrebenden Buchen und breitwipfligen Eichen und umrankt von blühendem Gestrüpp ..."
Am meisten beeindruckt ihn aber die Wolfsschlucht von Warnicken, in die 200 Stufen hinunterführen. "Man steigt hinab wie in ein Blättermeer, dessen grüne Wogen über der Schlucht zusammenschlagen. An manchen Stellen scheint der Himmel kaum hindurch. Die Schlucht ist das im Sommer trockene, mit Geröll angefüllte Bett eines Wildbaches, über welches Brücken führen. Man wandert bergauf und bergab, immer längs des Baches in der grünen Walddämmerung, gewiegt von dem eintönigen Rauschen des Meeres, das man noch nicht sieht, bis plötzlich die blaue See hineinstrahlt und sich dem Blicke die unendliche Meerferne auftut, ein überraschender Kontrast zu der Enge der Schlucht und ihrem Dunkel ... Wir gehen längs des Strandes des senkrecht abgestützten Ufers bis auf die Fuchsspitze, einem hohen mit schwarzem Gelände eingefaßten Vorsprung, von dem der Blick hinab fast schwindelerregend ist. Vom Uferrand führen Wege unmittelbar in den Park von Warnicken. Ich sah manchen herrlichen Park in Deutschland, doch keinen von dieser Schönheit".
Sie blieb bis in unsere Zeit, und niemand hat sie so in dichterische Form gegossen wie Agnes Miegel in ihrem Geleitwort zu dem Bildband "Ostdeutsche Bernsteinküste". Sie schreibt darin: "Wandere nach Georgenswalde - jeder Blick wandelt den Blick auf diese geschwungene Küste, auf das selig verdämmernde Grünblau ihrer gestreckten Landzungen. Lupinen duften betäubend süß übers Feld ... und nun bist du allein untergetaucht in das Dunkel der Schlucht, deren feuchter Grund bis in den Herbst eine Frische bewahrt, als müßten jetzt noch Maiblumen und weiße Orchis hier blühen. Auf und ab wanderst du, tauchst in Dunkel, siehst die See zwischen den engen Schluchtwänden, siehst sie hoch vom schmalen Randweg hinter den bemoosten, windverkrümmten Stämmen. Und dann lockt dich Wasserklingen, ein Bach gleitet über Steine und Wurzeln zur See - aber es ist quälend düster hier, du willst wieder hinaus aus dieser grünen Geborgenheit, nach den großen Glockenblumen, die oben am Hang nicken. Sehr steil ist die Holztreppe, so hoch und schmal, daß wir als Kinder glaub- ten, so müßte die Himmelstreppe sein, wenn wir sie, atemlos glühend vom salzigen Wind, emporklommen. Oben an dem wackligen Bänkchen - da war der Himmel! Der unendlich klare, wolkenschaukelnde Himmel des Samlands ..."
Noch einmal nehme ich den alten, zerfledderten Prospekt zur Hand. "Am schönsten aber ist Georgenswalde im Herbst!", steht da. Das hat wohl auch die Dichterin so empfunden. Aber ich habe eine andere Erinnerung. Es war im frühen Sommer, als ich einmal einem Gast aus Leipzig die Steilküste zeigte. Die Lupinen blühten, blauviolette Wellen liefen die Schluchten hinab, über der Glockenblumen zartes Blau, das Meer weitete sich und ging in seiner leuchtenden Bläue in den nur etwas helleren Himmel über ... Es war eine Symphonie in Blau, wie ich sie nie wieder gesehen habe und die meinen lebhaften Begleiter stumm werden ließ. Und als ich ihn später einmal wiedertraf, sagte er mir, daß er diesen Anblick niemals vergessen hätte. Und ein wenig Sehnsucht danach sei immer geblieben ...
Er hätte uns, die wir als Kinder dort im weißen Seesand gespielt haben, heute verstanden. Wie schrieb doch der Komponist unseres Ostdeutschlandliedes, Herbert Brust, an die Wand seines Hauses in Neukuhren:
Georgenswalde: Kurhaus des Ostseebades
Warnicken: Unteres Ende der "Himmelsleiter"
In Abendröten von Walter Scheffler
Das kleine Stranddorf lag im Abendscheinen.
Wir schritten müde durch den gelben Sand.
Das Labkraut duftete von stillen Rainen,
die Rosen leuchteten in deiner Hand.
Die Birken standen wie vermummte Nonnen,
umwallt von Abendnebeln in der Schlucht -
da goß noch einmal tief vom Meer die Sonne
den letzten Purpur über Strand und Bucht.
Still lag die Flut - wir standen glutumflossen
und staunten aufwärts zu der Wolken Band
und sah n auf goldgezäumten Feuerrossen
die alten Götter reiten tief ins Land . |
|