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Endlich ist die quälende Ungewißheit vorüber, ist es definitiv: Am 18. September wird ein neuer Bundestag gewählt, wenig später werden wir wahrscheinlich eine neue Bundesregierung haben. Der Bundespräsident hat in seiner Begründung für die Auflösung des Parlaments keine Schlupflöcher für juristische Winkelzüge offengelassen. An seiner rechtlich "wasserdichten" Argumentation wird auch das Bundesverfassungsgericht kaum vorbeikönnen; zumindest dürfte es den Karlsruher Richtern höchst schwer fallen, nachzuweisen, inwiefern Köhler mit seinem Ja zu Neuwahlen gegen das Grundgesetz verstoßen haben sollte.
Aber ganz sicher kann man natürlich noch nicht sein. Man weiß ja: Auf hoher See und vor Gericht...
Da jedoch Regierung und Opposition, Legislative und Exekutive und auch 80 Prozent des Volkes (nicht der Bevölkerung!) für vorgezogene Neuwahlen sind, schließen wir uns dieser breiten Mehrheit an und gehen einfach einmal davon aus, daß am 18. September gewählt wird. Welche Wahl (oder welche Qual) haben wir da?
Die Parteien haben sich inzwischen aufgestellt, präsentieren ihre Programme, verwenden mindestens ebenso viel Zeit und Energie darauf, die Programme der jeweiligen Konkurrenz niederzumachen - und treffen sich alle in einer stets wiederkehrenden Forderung: soziale Gerechtigkeit! Die versprechen sie alle - von ganz links bis ganz rechts, und in der Mitte sowieso - und bezichtigen alle anderen Parteien des exakten Gegenteils. So hält es die Union für sozial gerecht, die Mehrwertsteuer anzuheben, die FDP sagt, es sei sozial gerechter, sie nicht anzuheben. Die Grünen sehen in der Öko-Steuer den Gipfel der sozialen Gerechtigkeit, die SPD will Schuldenberg und Reichensteuer aufstocken, selbstverständlich ebenfalls im Namen der sozialen Gerechtigkeit. Und die linken und rechten Ultras von der NPD bis zur Gysi-Lafontaine-Volksfront, die auf unzufriedene Protestwähler spekulieren, halten es bereits für sozial gerecht, grundsätzlich gegen alles zu sein.
Was all diese selbsternannten Gerechtigkeitsfanatiker verbindet: Sie greifen sich immer nur einzelne Punkte heraus, an denen sie sowohl Selbstbeweihräucherung als auch Kritik an den anderen festmachen. Im Wahlkampf siegt wieder einmal die große Vereinfachung; der Blick fürs Ganze ist längst verlorengegangen.
Dabei wäre die Frage eigentlich leicht zu beantworten: Sozial gerecht ist alles, was Menschen, die arbeiten wollen, zu arbeiten erlaubt. Und sozial ungerecht ist alles, was Menschen, die arbeiten wollen, daran hindert. Vor dieser Kulisse ist es unsinnig, einzelne Programmpunkte isoliert zu betrachten. Zwei Prozentpunkte mehr bei der Mehrwertsteuer bringen keinen einzigen neuen Arbeitsplatz, werden aber, trotz aller Unkenrufe, wohl auch keinen vernichten; das gleiche gilt für Sonderabgaben auf Luxusgüter oder höhere Erbschaftssteuern. Selbst die durch Umverteilung angestrebte Senkung der Arbeitskosten bringt nichts, solange solch "revolutionäre Akte" hinter dem Komma stattfinden.
Deutschland braucht mehr als einen Flickerlteppich einzelner kleiner Reformschritte, sondern radikales Umdenken, eine umfassende, wahre Wende: geistig-moralisch (wie uns schon einmal versprochen und nicht gehalten), genauso aber wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch. Das ist der einzig gangbare Weg zu sozialer Gerechtigkeit. Wer dies mit seinem Wahlprogramm glaubhaft vermitteln kann, hätte es verdient, diese Wahl am 18. September zu gewinnen. Bislang allerdings ist da noch nichts und noch niemand in Sicht. |
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