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Sturm

 
     
 
Die harrschen Naturgewalten selbst stifteten das Gleichnis für die innere und äußere Lage des seit der Jahrhundertwende gebeutelten Landes: Durch die russische Hauptstadt Moskau fegten verheerende Gewitterstürme, die selbst einen Teil der Zinnen des mächtigen Kreml zum Einsturz brachten und Polizei, Eliteeinheiten und hilfswillige Bürger zum gemeinsamen rettenden Einsatz zwangen.

Rußland steht vor dem Zusammenbruch: Was unlängst mit dem umsichtigen Rücktritt von Tschernomyrdin & diverser Finanzgenossen begann und mit spontanen Streiks von Bergarbeitern wegen fehlender Lohnzahlungen seine Entsprechung fand, endet in diesen Tagen vorläufig mit einem schrillen Hilferuf Jelzins: "Wir brauchen keine Geld, wir brauchen die Unterstützung von Führern wie Clinton, Kohl, Chirac und anderen. Sie glauben, daß wir durchhalten und nicht zusammenbrechen." Dies ist gewiß nur Jelzins Glaube, denn der rasch zum Koordinator für international
e Finanzorganisationen berufene Anatolij Tschubaij sah die Lage realistischer und begehrte sofort erneut Hilfe vom Internationalen Weltwährungsfonds in Höhe von 10 bis 15 Milliarden Dollar.

Natürlich ist auch dies nur Augenwischerei oder jener berüchtigte Tropfen auf den längst ausgetrockneten russischen Stein, denn ein Volk von rund 160 Millionen von auswärts zu ernähren scheint ein völlig illusorisches Unterfangen zu sein, bei dem der Bittsteller zudem noch den IWF mit einer Art von Diakonischem Werk zu verwechseln scheint. (Oder folgt er ohnehin einem ganz anderem Spiel?) Übrigens im krassen Gegensatz zu Nobelpreisträger Solschenizyn, der sich analytisch nicht benebeln läßt und, wie ausgerechnet die "Welt am Sonntag" (21. Juni 1998) zitierend anführt, davon ausgeht, daß die "Washingtoner Regierung" berechnend wie jede andere ist und "nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Rivalen noch größeren Geschmack daran gefunden (hat), den ganzen Planeten zu kontrollieren".

Richtig gesehen, denn der IWF vertritt getreu die den Weltmarkt dominierende Währung Dollar. Und der steigt. Sicheres Zeichen dafür, daß die Anleger in Rußland aus dem Geschäft aussteigen, um ihr investiertes Geld zu retten. Der Dollaranstieg speist sich zudem noch aus der asiatisch-japanischen Krise, was schlimmstenfalls bedeuten kann, daß die Billigprodukte etwa aus China den amerikanischen Markt überschwemmen und der von den USA so nachhaltig favorisierte "offene Welthandel" eine Katastrophe beschwört, die mit einem Kollaps des nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter dem Stichwort Kapitalismus beschworenen Systems enden könnte. In Moskau scheint man innerhalb der politisch verantwortlichen Kräfte wenig von solchen Komplikationen zu registrieren, wenn man davon absieht, daß die Staatsduma inzwischen versucht, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin einzuleiten. Kommunisten und die liberale Fraktion "Jabloko" üben zwar in dieser Sache wackeren Schulterschluß, doch müßte man dem Kohl-Freund Jelzin "Landesverrat" nachweisen.

Auch sonst erweisen sich die Kräfte des Parlaments als wenig glücklos: Während man Wolgograd erneut in Stalingrad zurückbenennen möchte, versteift man sich zudem darauf, die letzten noch verbliebenen Reste des so sorgsam balsamierten Lenin im Kreml zu belassen, während sowohl Präsident Jelzin als auch der russische Metropolit Alexeij II. sich weigern, die verbliebenen Gebeine der Familie des letzten Zaren mit irdischem oder himmlischem Segen zu versehen. Diese geradezu manische Besessenheit, am Monument Lenin festzuhalten, beschwört auf irrationale Weise den einmalig blutigen Ungeist einer untergegangenen Epoche, deren Ablösung nur durch beherzte Trennhiebe von der unseligen Vergangenheit bei gleichzeitiger konstruktiver Projektion eines Zukunftsbildes von Rußland möglich scheint.

Alexander Solschenizyn ahnt gewiß, daß die Rußland von außen verordneten Wechselbäder einem gewissen System folgen, an deren Ende "eine internationale ,friedensstiftende Rettungsaktion‘" stehen könnte, deren letzter Zweck schließlich die "Aufteilung Rußlands" sein könnte, wie dies schon am Beispiel der Abtrennung der Ukraine erkennbar geworden ist. "Schon während des Bürgerkrieges", so Solschenizyn, "hatte die Entente keine Skrupel, das Land zu zerteilen." Für die Gegenwart aber sei "offensichtlich, daß der Westen ein technologisch rückständiges Land braucht. Wir unterwerfen uns sklavisch dem Programm des IWF. Aus Unverstand?" Offensichtlich, den Solschenizyn müßte begreifen, daß der Begriff Westen Schimäre und vages Konstrukt ist, er zerfällt durchaus in eine Vielzahl von Ländern mit eigenen Interessen, wovon eines das unerlöste Deutschland ist.

 

 
     
     
 
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