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Ein manchmal auch unbequemer Präsident wolle er sein, hatte Horst Köhler nach seiner Wahl in das höchste Amt unseres Staates angekündigt. Immerhin: Im Gegensatz zu vielen anderen Politikern hält er, was er versprochen hat. Ohne Rücksicht auf Wahltermine, Parteibefindlichkeiten oder -interessen spricht er auch Dinge aus, die man zwar denken, tunlichst aber nicht allzu laut und allzu öffentlich äußern sollte. Und die 100-Tage-Schonzeit, die hohen Amtsträgern üblicherweise eingeräumt wird, scheint für Köhler schon vorzeitig abgelaufen ; hatten Politiker dieser oder jener Couleur in den ersten Wochen seit dem Amtsantritt am 1. Juli es noch geschickt verstanden, so zu tun, als fühlten sie sich vom neuen Präsidenten nicht kritisiert, so zog Anfang dieser Woche erstmals eine Welle des Widerspruchs, ja der Empörung durchs Land.
Was hatte Köhler eigentlich so Schlimmes geäußert? Man müsse sich von der Illusion verabschieden, in allen Teilen Deutschlands gleiche Lebensbedingungen schaffen zu können; wer dieses Ziel verfolge, zementiere damit nur den Subventionsstaat, hatte er - eher beiläufig - im Rahmen eines langen Interviews mit Focus angemerkt. Natürlich mußte dieser Satz, eine Woche vor den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg, so wirken, als ob damit vorrangig auf die desolate Lage in den Jungen Ländern abgehoben sei. Die daraus entstandenen Möglichkeiten der Fehlinterpretation nicht durch entsprechende Klarstellung vermieden zu haben, ist ein kritikwürdiges Versäumnis jener Mitarbeiter, die solche Interviewtexte vor der endgültigen Freigabe auf sprachliche Unschärfen zu überprüfen haben.
Inhaltlich aber geht die Kritik ("Aufruf zur Resignation", "Wahlhilfe für Extremisten") an der Sache völlig vorbei. Landesweit gleiche Lebensbedingungen - die hat es weder in Deutschland noch in irgendeinem Staat je gegeben, und die wird es auch nie geben können. Lebensstandard und Lebensqualität - soweit solches überhaupt meßbar ist - waren im Bayerischen Wald schon immer niedriger als in München oder Nürnberg. In Ostfriesland wird man nie die gleichen Lebensbedingungen haben wie in Hamburg oder Bremen. Und das Leben auf dem Lande zwischen Rostock und Stralsund wird sich von dem in Leipzig oder Dresden immer sehr deutlich unterscheiden.
Zwischen den einzelnen Ländern und Regionen wird es auch in Zukunft Unterschiede geben. Freilich ist das Gefälle, so wie es sich heute darstellt, nicht auf ewig zementiert. Dazu zwei Beispiele: Der Freistaat Bayern hat sich unter Führung von Alfons Goppel und Franz-Josef Strauß vom rückständigen Agrarland zum führenden Hochtechnologie-Standort hochgearbeitet ("Laptop und Lederhose"). Umgekehrt hat das Ruhrgebiet seine frühere Spitzenposition als reichste und modernste Industrieregion eingebüßt; teilweise ist dort die Arbeitslosigkeit genauso hoch wie in Problemregionen längs der Grenze zu Polen.
Die Menschen in den Jungen Ländern haben also keinen Grund zu resignieren. Sie haben aber allen Grund, sich dagegen zu wehren, daß ihnen immer noch verlogene Illusionen vorgegaukelt werden - das fing mit den "blühenden Landschaften" an und zeigt sich heute in den Rattenfängereien ultralinker und ultrarechter Extremisten. Vor allem die Bürger Sachsens und Brandenburgs, die an diesem Sonntag zur Wahl aufgerufen sind, sollten bedenken, daß es immer verdächtig ist, wenn Politiker auf die kompliziertesten Fragen die allereinfachsten Antworten parat haben. Realistische Ziele statt Utopien und Illusionen - so ist der Appell des Bundespräsidenten zu verstehen. Und daran gibt es eigentlich nichts zu kritisieren.
Ein Bundespräsident mit Biß: Nicht nur Thüringer reagierten auf die jüngsten Äußerungen unseres Staatsoberhauptes im Focus wie gebissen. Nach Bundeskanzler Kohl, der von blühenden Landschaften im Osten erzählte und daß es niemandem schlechter gehen werde, sowie Kanzler Schröder, der seit seiner Wahl verspricht, daß der konjunkturelle Aufschwung, der alle Probleme löse, unmittelbar bevorstehe, muß ein unbequem wahrheitsliebender Präsident wie Horst Köhler auf viele provozierend wirken. |
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