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Kürzlich hat der Spiegel aus dem Brief eines deutschen Verlegers zitiert. In ihm empört sich der in der Buchwelt bekannte Michael Krüger vom Hanser-Verlag, der hartnäckig anspruchsvolle Literatur verlegt, über das Verhalten der Jury der Bücher-"Bestenliste" des SWR. Sie sei dabei, aus der "Bestenliste" eine weitere "Bestsellerliste" zu machen, und macht diese Mutation an der Nichtbeachtung von vier großen Poeten fest, die bei Hanser erschienen sind. Krüger hat zweifelsfrei recht, aber seine Kritik wäre treffender gewesen, wenn sie nicht gleich Eigenwerbung gewesen wäre.
Doch wir wollen den kleinen Eklat nur aufgreifen, um auf den größeren zu kommen: die schnöde Behandlung der Literaturgattung Poesie in der deutschen Kulturgegenwart. Was ein großer Teil der deutschen Verlage sich hier glaubt leisten zu müssen, weil er glaubt, sich Poesie nicht mehr leisten zu können, streift inzwischen die Grenze zum Kulturbarbarischen. Dabei ist Poesie mit Abstand die "haltbarste" Literaturgattung, die es gibt. Ihre Bilder entzünden die Phantasie, entzücken die Seele. Lyrik, die Tochter der Musik, erfüllt uns mit Klängen, die sich wohltuend von den Phrasen der Politik, dem Sprachmüll der TV-Deponien unterscheiden. Im Gedicht erfahren wir die Welt freier, tiefer, genauer. Durch Gedichte kann man gehen wie durch Landschaften und Beziehungen zu ihnen aufnehmen wie zu Menschen. Sie gehören ins (Lebens-)Gepäck, wohin die Reise gehen mag.
Hier deshalb (m)eine kleine Bestenliste: Bei Suhrkamp ist der Gedichtband "Wirklichkeit und Verlangen" von Luis Cernuda erschienen - einem großen spanischen Dichter. Er lebte von 1902 bis 1963, seit 1938 im Exil. Der Band versammelt Gedichte aus vier Jahrzehnten, eine Art Autobiographie in Versen, die ihre Anspruchskraft im doppelten Sinne nicht eine Silbe lang eingebüßt haben: "Wie dich ausfüllen, Einsamkeit, wenn nicht mit dir selbst."
Man kann in Versen aber auch Romane schreiben. Der australische Poet Les Murray hat es gewagt, und der Schweizer Ammann Verlag hat sein faszinierendes Versepos "Fredy Neptune" veröffentlicht. Herausgekommen ist die moderne Odyssee eines australischen Seemanns deutscher Abstammung, der im Ersten Weltkrieg Zeuge türkischer Greueltaten an den Armeniern wird. Es ist ein Leben in den Schrecken des 20. Jahrhunderts. Dennoch steht am Ende der phantastischen Reise in realitätsgesättigten Versen der noch phantastischere Satz: "Aber das Leben ist zu groß: es läßt sich nicht beschreiben."
Zuletzt sollen die "Gesammelten Gedichte" Rainer Brambachs genannt sein. Sie sind bei Diogenes erschienen. Der 1983 verstorbene Schweizer Poet hat ein schmales Werk hinterlassen. Aber die geniale Schlichtheit seiner Verse, ihre leise Ironie, wenn es um den Menschen vor der Natur und die Natur in ihm geht, machen diese Gedichte immun gegen Zeitgeistklugheit jeder Sorte: "Es war auch die Zeit, / da uns in der Dämmerung / unter Gaslaternen/ein anderes Licht aufging." Poesie bewahrt dieses andere Licht. Immer! Ulrich Schacht
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