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Von dunklen Wäldern und kristallnen Seen

 
     
 
Wenn unser Ostdeutschlandlied vom „Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen“ singt, dann treffen diese beiden Anfangszeilen besonders auf das südliche Masuren zu. Der Kreis Johannisburg war einmal der waldreichste Kreis Ostdeutschlands, die Johannisburger Heide mit hunderttausend Hektar das größte zusammenhängende Waldgebiet Preußens. Und von den kristallnen Seen war der Spirding der größte - nicht nur Ostdeutschlands, sondern sogar mit seinen 122,5 Quadratkilometern
Deutschlands größter Binnensee, wenn man den Bodensee nicht mitzählt. Er war aber auch der am dünnsten bevölkerte Landkreis Preußens - verständlich, daß die Menschen hier eine besonders enge Bindung zu ihrem Heimatland hatten, das mit seiner Einsamkeit und Weite in ihrem Leben die Dominante bildete.

Ein Mann, der hier lebte und an maßgeblicher Stelle bis zum bitteren Ende wirkte, Landrat Ziemer, hat dies einmal so formuliert: „Der Sternenhimmel war in den Winternächten von so unendlicher Pracht, daß man so recht spürte, wie unendlich klein der Mensch ist im Weltall.“

Kein Wunder, daß die Kinder, die in dieser Einsamkeit aufwuchsen, Tiere als liebste Spielgefährten hatten. Und sogar ein Baum konnte zum besten Freund werden, wie der Schriftsteller Otto Boris in seinen Erinnerungen schildert:

„Die erste bewußte Vorstellung, außer Vater, Mutter und Geschwister, war ein Baum. Unser Haus war das letzte im Dorf nach dem Walde zu. Zwischen dem kleinen Vorgärtchen und dem Wald lief ein breiter, tief zerfahrener Sandweg. Gerade dem Garteneingang gegenüber stand ,der Baum‘, der Inbegriff aller Bäume. Wenn meine Schwester nach mir gefragt wurde, hieß es: ,Er spielt am Baum.‘

Ich entdeckte ihn an einem Abend nach einem heftigen Gewitterguß. Noch eilten dunkle Wolkenfetzen über den Wald, aber schon warf die scheidende Sonne glutende Strahlenbündel auf den Baum. Dessen rote Rinde leuchtete wie flüssiges Gold. Der Baum und sein wirres, gewundenes Geäst flammten auf wie brennende Fackeln. Das Kind, das aus dem Schatten des Gartens hervorgekrochen kam, starrte und staunte. Einen Begriff kannte ich: So hoch wie das Dach! Das war das Äußerste. Aber der Baum? Der war ja noch viel, viel höher als das Dach.

Das Wunder rührte sich nicht, aber es lockte und reizte. Ich wollte es fassen, mit den Händen fühlen. O weh: Der Riegel an der Gartenpforte war vorgeschoben. So suchte und fand ich ein Loch im Zaun, zwängte mich hindurch und wackelte auf den Baum zu. Ich umfaßte seinen Stamm, preßte mein Gesicht in ihn, er roch so gut nach Wald. Ich blätterte ein Stückchen von der Rinde ab, schaute ängstlich hinauf, ob der Baum nicht zürne, kroch ein paarmal um ihn herum und setzte mich schließlich hin, noch in das große Leuchten starrend. Und da kam der Abendwind. Es rauschte, raunte und flüsterte. Ich glaubte, Stimmen zu vernehmen: Der Baum wurde zu einem lebendigen Wesen.

Unter ihm hatte sich eine Pfütze gebildet. Das Wasser war klar, der Grund schwarz. Da saß ich denn und sann über das Wunder.

Plumps - warf mir der Baum einen Zapfen in ,meinen‘ See, den ich fortan mehr liebte als den großen hinter dem Garten, der so weit und unheimlich herüberschaute. Als meine Schwester mich rief, ergriff ich rasch den Zapfen, warf noch einen letzten Blick als ,Danke schön‘ zum Baum hinab und trabte ab. Am andern Morgen eilte ich mit dem Kaffeebrot noch in der Hand zu dem Baum.

Er blieb mein Freund. Am meisten gefiel er mir, wenn er rauschte. Dann kauerte ich mich ganz fest zusammen und lauschte, wie man einem fremden, fernen Lied lauscht, während Schauer über meinen kleinen Körper rieselten und meine Beinchen Gänsehaut bekamen.“

Wohl jedes Kind, das in der masurischen Wälderweite aufwuchs, hat einen Lieblingsbaum gehabt. Oder ein Tier: Ein Eichhörnchen, eine Wildtaube, einen Schwan, manchmal sogar ein zahmes Reh. Und da gibt es köstliche Geschichten, die der Förster Ludwig Schulz aus Jegodschin zu erzählen wußte.

Eines Tages kam ein Studienrat mit einigen Schulkindern ins Forsthaus und erklärte aufgebracht, sie wären unweit von einem kapitalen Rehbock angegriffen worden. Er hätte ihnen einfach den Weg versperrt und sie konnten sich nur mit Mühe und Not dem gefährlichen Tier entziehen. Der Förster hörte sich das an, gedankenvoll, so schien es: „Aber so was, aber so was. Na, ich geh’ gleich mal hin und seh’ nach dem Rechten.“ Als er auf dem ersten Waldweg war, wich seine sorgenvolle Miene einem Schmunzeln.

Der Studienrat und die Kinder, die auf der sicheren Veranda geblieben waren, starrten erschrokken auf den Förster, als der nach einer Stunde gemächlichen Schrittes zum Forsthaus zurückkehrte. Mit einem Rehbock, der friedlich, als verstände sich das ganz von selbst, an seiner Seite zog. „Ist es dieser gewesen?“ fragte er. „Ja, der war’s, der war’s!“ schrien die Kinder. Schulz trat mit dem Rehbock an die Veranda heran und lachte: „Das ist doch Waldemar, mein Freund. Der spielt nur Polizei und paßt auf, daß mir da keiner auf verbotenen Wegen geht. Habt Ihr nicht das Schild vor dem Weg gelesen? Da steht doch deutlich: Verbotener Weg! Wenn das mein Waldemar liest und er sieht Euch dann kommen, dann greift er eben ein!“ Es war ein zahmer Rehbock, der im Forsthaus wie zu Haus war und nur von Zeit zu Zeit in den Wald zog, um auf seine Weise für Ordnung zu sorgen!

Noch spektakulärer war aber das Erlebnis, das ein Angler, der als Gast im Forsthaus Jegodschin weilte, mit einem Raubvogel hatte. Er hatte sich bewußt dieses einsame Fleckchen ausgesucht, denn wo konnte er sich reichere Beute versprechen als auf einem der stillen, weiten, masurischen Seen. Und Petrus war ihm gnädig: Kaum hatte er die Angel ausgeworfen, ging auch schon die Pose in die Tiefe, und er hatte einen kapitalen Brassen am Haken. Der Angler hatte den Fisch schon im Boot, da hörte er auf einmal ein Flügelrauschen, und ein großer Vogel stieß herab, nahm den Fisch in seine Fänge und flog mit ihm zu einem großen Baum am Ufer, wo er auch gleich mit der Mahlzeit begann.

Das Spiel wiederholte sich beim nächsten Fang, und der Petrijünger ruderte sofort zum Forsthaus zurück, um dem Förster von dem Fischräuber zu berichten, mit der Forderung: „Den müssen Sie sofort erschießen!“ Der Förster nickte, und zusammen gingen sie zum Boot. „Sie haben ja keine Flinte mit!“ rügte der Gast. „Ach, das mach’ ich auch ohne die“, versicherte der Förster, dessen Gesicht nicht die leiseste Bewegung verriet.

Sie ruderten zu der Stelle, an der der Fischraub geschehen war, und nach kurzer Zeit zappelte schon ein Fisch am Haken. Wieder vernahm der Angler das Flügelschlagen, aber der Vogel landete nicht bei der Beute, sondern - auf der Schulter des Försters. „Na, angeln sie man weiter“, lachte Schulz, „das ist nämlich mein Hans, mein zahmer Bussard. Wenn er auf meiner Schulter sitzt, läßt er ihre Fische in Ruh!“ Und so geschah es, und dem verwunderten Gast geriet doch noch ein beträchtlicher Fang.

Und auch diese Anekdote ist verbürgt: Zum Kreis Johannisburg gehörte Arys, zwar die kleinste Stadt Masurens, aber mit dem größten Truppenübungsplatz Ostdeutschlands. Und hier spielt die Geschichte. Auf dem Truppenübungsplatz gab es zwar Waldungen, aber kaum Rotwild, jedenfalls nicht als Standwild. Das wurmte einen Kommandanten, und er ließ ein Gehege einrichten, das mit Kahlwild besetzt wurde - nur ein Hirsch fehlte noch. Den ließ sich der Kommandant aus einem der besten Rotwildreviere kommen - per Bahn! An dem Tag, da er eintreffen sollte, sagte er der Ordonnanz, daß ihm sofort nach Eintreffen des Hirsches Meldung zu machen sei. Irgendwie hatte der gute Mann die Order falsch verstanden, denn er meinte, ein „Herr Hirsch“ würde erwartet. Jedenfalls, als kurz darauf der Landrat des Kreises in der Kommandantur vor- sprach und die Ordonnanz bat, ihn bei dem Kommandanten zu melden, stür-zte der brave Mann in das Zimmer und rief: „Herr Hirsch ist da!“ Der über seine Akten gebeugte Kommandant hörte nur „Hirsch“ und befahl: „Sofort in das Gatter sperren!“ Das fassungslose Gesicht des Mannes und das Lachen des eintretenden Landrates trugen zur schnellen Aufklärung des Irrtums bei.

 
     
     
 
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