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Am 11. September enthüllten der Präsident der Estnischen Akademie der Wissenschaften, Prof. Dr. Jüri Engelbrecht, und der Deutsch-Balte Berndt von Staden im Hofe der heutigen Estländischen Akademie der Wissenschaften auf dem Revaler Domberg eine Ehrentafel.
Diese erinnert daran, daß in der einstigen Residenz des Grafen Ewald Alexander von Ungern-Sternberg bis 1940 die "Estländische Literärische Gesellschaft", eine der wichtigsten wissenschaftlichen Institutionen deutscher Prägung seit Mitte des 19. Jahrhunderts, ihre Wirkungsstätte hatte. Vor allem aber ruft sie die bis zur Umsiedlung 1939 in dem Palais ansässige Deutsche Kulturselbstverwaltung ins Gedächtnis.
"Die Kenntnis der Geschichte ist Voraussetzung für die vernünftige Gestaltung der Zukunft", sagte in der Feierstunde der Vorsitzende des Kulturausschusses im estnischen Parlament. Mart Meri, Sohn des Staatspräsidenten Lennart Meri, betonte in seiner Rede "die Gemeinsamkeit von deutscher und estnischer, aber auch deutscher und lettischer Kultur im Baltikum". Aufgabe sei es, "die Kontinuität dieser Kultur zu garantieren eine Kontinuität in ständiger Veränderung und zugleich trotziger Beständigkeit".
Berndt von Staden und Dr. Heinz-Adolf Treu, Bundesvorsitzender der Deutsch-Baltischen Freundeskreis, würdigten das vor 75 Jahren vom estnischen Parlament beschlossene "Gesetz über die Kulturselbstverwaltung der nationalen Minoritäten" in ihrer Bedeutung für die Bewahrung der Identität der Minderheiten und für die partnerschaftliche Zusammenarbeit aller Volksgruppen.
Das maßgeblich vom deutsch-baltischen Politiker Werner Hasselblatt gestaltete Gesetz vom 12. Februar 1925 gründete sich auf die Geburtsurkunde des estnischen Staates, auf das "Manifest an die Völker Estlands" vom 24. Februar 1918, in dem bereits das Recht der Minderheiten auf kulturelle Selbstverwaltung festgeschrieben worden war.
Dieses Gesetz, das sich als Angebot des Freistaates an alle estländischen Bürger richtete, galt seinerzeit als "Visitenkarte des estnischen Volkes zum Eintritt in die Welt der freien Völker". Es baute nicht auf dem Territorial-, sondern auf dem Personalprinzip auf und war deshalb vor allem für die verstreut lebenden Deutschbalten und Juden von großer Bedeutung.
Die weithin in geschlossenen Siedlungsgebieten beheimateten Schweden und Russen konnten ihre kulturellen Interessen im Rahmen der allgemeinen kommunalen Selbstverwaltung wahrnehmen.
Jedem estländischen Staatsbürger war es möglich, sich frei zu einer Volksgruppe zu bekennen, und einzig und allein auf diese freie Entscheidung gründete sich die jeweilige Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe.
Nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Kulturautonomie konstituierte sich im Herbst 1925 die deutsch-baltische Volksgruppe in einer demokratisch strukturierten Körperschaft öffentlichen Rechts. Ihre Organe waren der von den Mitgliedern gewählte Kulturrat, die aus diesem heraus gebildete Kulturverwaltung sowie Kulturkuratorien in den Kreisstädten.
Der Staat übertrug der Kulturselbstverwaltung wesentliche Hoheitsrechte wie beispielsweise das Recht, eigene Beamte zu ernennen, Lehrer einzustellen, gesetzesgleiche verbindliche Verordnungen für die Volksgruppe zu erlassen und selbständig Steuern zu erheben. Die Beschlüsse des Kulturrates wurden im staatlichen Gesetzblatt verkündet.
Hauptaufgabe der Kulturselbstverwaltung waren der eigenverantwortliche Unterhalt und die Gestaltung des deutsch-baltischen Bildungs- und Schulwesens, die Förderung vielfältiger kultureller Einrichtungen von Bibliotheken bis zu einem deutschen Theater sowie die Unterstützung der Jugendarbeit.
Die deutsch-baltische Volksgruppe nahm das Recht auf Kulturautonomie bis zu ihrer Umsiedlung im Herbst 1939 in Partnerschaft mit dem estnischen Mehrheitsvolk und in Loyalität zum gemeinsamen Staat wahr, für den ihr Baltenregiment im Freiheitskrieg gegen das kommunistische Rußland 1918-20 ein hohes Blutopfer erbracht hatte.
Die in der Zwischenkriegszeit europaweit gelobte estnische Regelung des Zusammenlebens eines Mehrheitsvolkes mit den Minderheiten fand mit Ausnahme hinsichtlich der Slowenen in Kärnten leider keine Nachahmung.
Man kann nur wünschen, daß die Politiker der Mehrheitsvölker im östlichen Mitteleuropa heute erkennen, welche friedensstiftende Kraft in ethnischen Spannungsgebieten in einer auf dem Personalprinzip aufbauenden Kulturselbstverwaltung der Volksgruppen liegt. Wenigstens Estland hat nach der wiedergewonnenen Unabhängigkeit an seine minderheitenpolitischen Traditionen anzuknüpfen versucht.
Staatssekretär a. D. Berndt von Staden schloß seine Festansprache auf dem Revaler Domberg mit den Vergangenheit und Gegenwart verbindenden Worten: "Unser Respekt gehört dem liberalen und humanen Geist der estnischen Nation, der im Gesetzgebungswerk von 1925 ebenso Ausdruck gefunden hat wie in der Singenden Revolution von 1990."
Und Heinz-Adolf Treu verlieh in seinem Schlußwort mit Blick auf die Europäische Union der Hoffnung Ausdruck, daß "die damals (...) weltweit beispielhafte Minderheitenpolitik die europäische Waagschale zugunsten Estlands beeinflussen" möge.
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