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Im Schatten des 11. September 2001, tief eingebrannt in die Annalen der Weltgeschichte, stehen heute die westliche Erdhälfte und der islamisch-orientalische Lebenskreis. Was eigentlich unterscheidet die beiden Kulturen voneinander und, wichtiger noch, wo-rin liegen die Ursachen ihrer Verschiedenheit? Bernard Lewis, Nahostexperte der amerikanischen Princeton-Universität, hat ein Buch vorgel egt, das Aufmerksamkeit verdient.
Noch im Früh- und Hochmittelalter adaptierten europäische Christen zahlreiche wissenschaftliche und technologische Kenntnisse von gebildeten Moslems. Als die Renaissance das Abendland erfaßte, mutierte dieses Bild in sein Gegenteil. Der Islam erstarrte, während Europa neuen Horizonten entgegeneilte. Endgültig besiegelte die katastrophale Niederlage der Türken bei Wien 1683 den orientalischen Verfall.
Seither sahen sich Moslems in der Rolle des Schülers. Mühsam erwarben und kopierten sie, besonders seit Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798, Errungenschaften der Ungläubigen - zuerst militärischer Art, dann folgten Wissenschaft und Technik, Infrastruktur, zuletzt auch politische Verfassung und Frauenemanzipation. Dieser schrittweise Prozeß blieb jedoch, wie Lewis gut beschreibt, dem Islam künstlich implantiert, letztlich fremd. Islamischen Ländern, die formal säkularisierte Türkei mit eingeschlossen, glückte es bis heute kaum, "westlichen" Fortschritt aus eigener Substanz zu schöpfen. Zahlreiche Moslems entwickelten so Minderwertigkeits- sowie antiwestliche Haßgefühle.
"Was ist schief gelaufen ?" Diese Kernfrage, in islamischen Ländern oft gestellt, versucht Lewis zu beantworten. Jeweils andere kulturphilosophische Glaubenssätze, so Lewis, bedingten die extrem differenzierte Entwicklung beider Weltteile. Am signifikantesten fällt das Verhältnis von "Staat" und "Kirche" ins Auge, die, in Europa getrennt, unter der grünen Fahne des Propheten eine untrennbare Synthese bildeten. Daran sei die islamische Eigenart gekoppelt, den Koran als vollendet und abgeschlossen zu betrachten. Eben diese Doktrin habe geistige Stagnation hervorgebracht.
Lewis vertritt die interessante These, daß andersartige Ursprünge von Christentum und Islam als kausaler Wurzelgrund zu betrachten seien. Christen und auch die Juden wurden lange Zeit vom Staat verfolgt und hätten sich deshalb von der Obrigkeit abgegrenzt. Hingegen war der sieggewohnte Mohammed "sein eigener Konstantin"; er schuf selbst einen Staat, der in Gestalt des Kalifen politische und religiöse Gewalt harmonisierte. Deshalb gebe es in der islamischen Geschichte auch keine Europa vergleichbaren Religionskriege und Häresien.
Die obige These leuchtet ein; es stellt sich jedoch die Frage, ob religiöse Grunddogmen, sofern sie das Verhältnis von "Welt" und "Gott" betreffen, ein Faktor sui generis sind, der letztlich nur teilweise von "außen" bedingt wird.
Niemand kann definitiv sagen, ob ein Kompromiß zwischen Koran und westlicher Kultur möglich ist. Verliert die moslemische Religion langfristig ihre Prägekraft oder wird der Fundamentalismus triumphieren? Rolf Helfert
Bernard Lewis, "Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor", Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2002, 254 Seiten, 19.90 Eur |
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