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Bringt man die Herabsetzung des Wahlalters auf den Tag der Geburt ins Gespräch, also praktisch das "Wahlalter Null" für alle Bürger, wird man bestenfalls mitleidig zweifelnd angeschaut. "Familien-Wahlrecht" wird ein solches Wahlrecht meistens genannt, für das jetzt aus den Reihen der FDP im Deutschen Bundestag ein neuer Anlauf gestartet wurde, der in allen Fraktionen Befürworter gefunden hat.
Typisch für einfältige Reaktionen ist die des Chefredakteurs einer im hessischen Fulda erscheinenden Regionalzeitung: "Hanebüchener Unsinn" sei die Forderung nach einem Familien-Wahlrecht, meint der journalistische Überflieger und erwartet von einem Stimmrecht für Kinder "sicher bald den ersten Minister im Pampersalter" und auch eine einleuchtende Erklärung dafür, "warum Politiker manchmal so kindisch daherkommen".
Na bitte, selbst in der Stadt, wo der verstorbene Erzbischof Johannes Dyba wirkte, der das Familien-Wahlrecht nachhaltig förderte und es in seiner Diözese bei den Wahlen zu den Pfarrgemeinderäten eingeführt hat, werden Stereotype bedient, wenn Ungewohntes gedacht und vertreten wird. Doch nicht nur im Schatten des Fuldaer Domes, überall im Land ähneln sich die arrogant-blasierten Reaktionen. Zuhören, Nachdenken und "Neues Denken" sind zu fremden Verhal- tensweisen geworden, die zwar lautstark immer wieder gefordert, aber nur selten praktiziert werden.
Stagnation, Anzeichen einer Rezession und schwindendes Vertrauen in die Zukunft prägen das Bewußtsein in unserem Land. Kein Wunder. Die Bevölkerungszahlen sinken. Seit Jahren werden Millionen von ungeborenen Kindern abgetrieben, man schätzt über fünf Millionen in den letzten zwei Jahrzehnten. Abtreibungsgegner werden beim Ökumenischen Kirchentag (!) vertrieben, Ehescheidungen sind an der Tagesordnung, falls überhaupt geheiratet wird. "Spaß haben" ist und wird angesagt. Per Fernsehen präsentieren ihn dümmliche "Talkmaster", deren Niveau kaum mehr zu unterbieten ist. Das Gespür für historische und ethnische Zusammenhänge scheint verloren zu sein. Massenarbeitslosigkeit beherrscht das wirtschaftliche und soziale Leben. Die Renten sind nicht "sicher", und naiv wird erwartet, daß statt dessen Millionen eingewanderter und noch einwandernder Ausländer die überalterte Bevölkerung in Zukunft ernähren.
Licht am Ende des Tunnels? Hier und da wird die reale Lage begriffen. Stagnation, beginnende Rezession und schwindendes Vertrauen in die Zukunft bringen eine Art "Konventitis" hervor, bisher aber noch ohne konkrete praktische Zielansprache und ohne persönliche Bereitschaft, in das reale, von Parteien getragene Geschehen vorzustoßen.
Die Abschaffung der innovationsfeindlichen Fünfprozentklausel, die behutsame Einführung von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz und das Familien-Wahlrecht wären der Weg, die gegenwärtigen Probleme in einer "Neuen Demokratie" parlamentarisch, pluralistisch und ohne extreme Verwerfungen im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu lösen. Die Familienpolitik steht, wie das Bundesverfassungsgericht bestätigt, nicht im Einklang mit dem Grundgesetz. Die Familien stellen zwar die Hälfte der Bevölkerung, aber nur ein Drittel der Haushalte und der Wähler in Deutschland. Was Wunder, wenn ihre Interessen, die für die Zukunft aller von entscheidender Bedeutung sind, allzuoft zu kurz kommen. Darum sollten die rund 13 Millionen Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren mit dem Wahlrecht ausgestattet werden. Ausgeübt würde das Wahlrecht für Minderjährige entsprechend dem auch sonst bei Geschäftsunfähigen üblichen Verfahren durch deren gesetzliche Vertreter. Völlig unkompliziert empfiehlt sich die Verteilung des Vertretungsrechts je zur Hälfte auf die beiden Elternteile, bei Alleinerziehenden liegt es ganz bei diesen. Unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität gibt es keinen ernsthaften Einwand gegen dieses Verfahren. Niemand ist besser geeignet, eine familienfreundliche Politik herbeizuführen, als die Eltern, die um ihrer Kinder willen über den Tellerrand ihres Lebens hinausblicken und aus ihrer Elternverantwortung verpflichtet sind, Politik nicht nur aus der Perspektive einer Generation zu sehen und zu gestalten.
Doch nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Familienpolitik als Grundlage der Zukunftssicherung spricht alles dafür, dem Grundsatz "Ein Mensch - eine Stimme" endlich auch im Wahlrecht gerecht zu werden.
Mit der Geburt sind Kinder ein Teil des Volkes, von dem in einer Demokratie die Staatsgewalt auszugehen hat. Auch dieser egalistische Ansatz gebietet das "Wahlalter Null". Väter und Mütter müssen alle möglichen Haftungen und Pflichten für ihre Kinder übernehmen, aber von der politischen Verantwortung für ihre Kinder im immer schwierigeren gesellschaftlichen Umfeld bleiben sie ausgeschlossen. In diesem demokratischen Ansatz treffen sich Gleichheit und Elternverantwortung, die beide auf das Wahlrecht als Schlüssel zur Zukunft weisen.
Die Geschichte des Wahlrechts aber ist auch die Geschichte seiner Ausdehnung auf immer mehr Bevölkerungsgruppen als Folge eines wachsenden demokratischen Bewußtseins. Von den Wählern kleiner Gruppen (Adel, Stadtrat, Kurfürstenkolleg) ging es 1848 von den selbständigen Hausvätern auf alle volljährigen Männer, 1919 auch auf die volljährigen Frauen, 1974 auf die Achtzehnjährigen und später bei Kommunalwahlen auf die Sechzehnjährigen über.
Die Forderung nach einem von den Eltern stellvertretend wahrgenommenen Wahlrecht ab Geburt findet sich schon in den programatischen Aussagen des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Sie gehörte zu dem politischen Vermächtnis des nach dem 20. Juli 1944 zum Tode verurteilten Carl Goerdeler, der bei einem Gelingen des Attentats auf Hitler hätte Reichskanzler werden sollen.
Heute hält es Altbundespräsident Roman Herzog, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, "für überlegenswert, wenn ein Elternpaar, das drei unmündige Kinder hat, insgesamt fünf Stimmen bei der Wahl abgeben könnte. Über solche Vorschläge sollte man vorurteilsfrei diskutieren."
"Hanebüchenen Unsinn", wie der Schreiber in Fulda meint, werden Goerdeler und Herzog kaum im Sinn gehabt haben, als sie in die richtige Richtung wiesen, um Deutschlands demokratische Zukunft zu sichern. |
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