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Nein, eine Überraschung war es wirklich nicht, als CSU-Chef Edmund Stoiber vor die Nation trat und verkündete, CDU-Chefin Angela Merkel sei (wie in dieser Zeitung schon vor einem Jahr vorausgesagt) die Kanzlerkandidatin der Union. Faktisch war sie bereits eine Woche zuvor gekürt worden: ihr Kontrahent Gerhard Schröder hatte mit seiner Ankündigung vorgezogener Neuwahlen die Opposition von allen langwierigen Kandidatenstreitereien befreit und zu einer schnellen Entscheidung genötigt; für personelle Alternativen blieb da keine Zeit.
Im konservativen Lager - soweit es ein solches innerhalb der Union überhaupt noch gibt - wurde die Kandidatenkür mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Einerseits weiß man natürlich, daß keine andere Regie- rung, unter welcher Führung auch immer, ihre Sache noch schlechter machen könnte als die derzeitige. Rot-Grün muß weg, vor allem die Grünen müssen von der letzten ihnen verbliebenen Regierungsbank verjagt werden, anders kann dieses Land nicht aus der Talsohle herauskommen. Deutschland braucht den Wechsel, und es braucht ihn so schnell wie nur möglich. Da haben Merkel, Stoiber und Westerwelle einfach recht: Jeder Tag mehr mit dieser Regierung ist ein verlorener Tag für unsere Vaterland.
Aber reicht die Gewißheit, daß Schwarz-Gelb (oder vielleicht sogar Schwarz allein?) zumindest nicht schlechter sein kann als Rot-Grün, weil es eben schlechter gar nicht mehr geht? Hat dieses Volk nicht nach sieben kargen Jahren Anspruch auf mehr, nämlich auf eine deutlich bessere Politik? Und ist eine Kanzlerin Merkel wirklich Garant für eine Wende zum Besseren?
Was den wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Teil betrifft, sollten sich Skeptiker vor allzu schnellen Vorurteilen hüten: Gebt dieser neuen Bundesregierung, die wir mit hoher Wahrscheinlichkeit im Herbst haben werden, eine faire Chance, es besser zu machen. Die konkreten Möglich- keiten dazu sind ohnehin recht bescheiden, allein schon angesichts der seit vielen Jahren hemmungslos ausgeplünderten Staatskassen. Wer genauer wissen will, wie eng der finanzielle Spielraum ist, frage nach bei Christian Wulff in Hannover, bei Hans-Peter Carstensen in Kiel und demnächst bei Jürgen Rüttgers in Düsseldorf. Wobei Wulff dem staunenden Publikum das Phänomen vorführt, daß man auch mit einem rigorosen und schmerzhaften Sparkurs Respekt und Sympathie beim Volk gewinnen kann.
Wulff gilt - mehr als jeder andere deutsche Politiker - zu Recht als außergewöhnlich kompetent, seriös und glaubwürdig. Daher sähen viele lieber ihn als Frau Merkel demnächst im Kanzleramt. Daran wird sich die erste Kanzlerin Deutschlands messen lassen müssen.
Und darüber hinaus wird sie sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie jenseits der rein materiellen Politikbereiche Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft zu korrigieren bereit ist. Was Helmut Kohl einst allzu schwammig als "geistig-moralische Wende" postulierte (und leider nie umsetzte), gehört wieder auf die Tagesordnung, unter welchem Namen auch immer. Merkels politisch wie menschlich unakzeptabler Umgang mit dem konservativen Abgeordneten Martin Hohmann war da allerdings ein schlechtes Omen. Aber vielleicht ist sie ja, was die Rückbesinnung auf traditionelle Werte betrifft, doch noch für die eine oder andere Überraschung gut.
Die zwei Gesichter der Angela Merkel: Was hat Deutschland von einer Kanzlerin Merkel zu erwarten? Am Tag ihrer offiziellen Nominierung zur Kanzlerkandidatin verbreitete sie mit strahlendem Lächeln Optimismus (den unser Land ja auch dringend braucht). Viele betont wertkonservativ orientierte Bürger sehen in ihr aber eher eine strenge, rücksichtslose und machtbewußte Karrierefrau. Fotos: vario-press, Ipon/Boness |
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