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Die schrecklichen Bilder des Geiseldramas von Beslan sind noch allgegenwärtig, Angehörige von rund 120 Vermißten suchen verzweifelt in den Trümmern der Schule nach ihren Kindern, sie laufen hilflos mit Fotos in Krankenhäusern, Leichenhallen und Trümmerhaufen umher; vergeblich, denn die russischen Behörden leisten ihnen keinerlei Hilfe. Im Gegenteil: an einer lückenlosen Aufklärung der Geiselnahme und wie es überhaupt dazu kommen konnte, ist der Kreml nicht interessiert.
Schon der Umgang mit den Zahlen der Opfer (laut offiziellen russischen Angaben 335 Tote, inoffiziell über 400) zeigt, wie verkrampft Moskau versucht, über das offensichtliche Versagen seiner Eliteeinheiten hinwegzutäuschen. Dies ruft die Kritik der in ihrer Berichterstattung schon seit langem eingeschränkten Medien und vieler Intellektueller auf den Plan.
Der Politologe Stanislaw Belkowski kritisierte, daß in Beslan kein einziger politisch Verantwortliche vors Volk getreten ist, vom jüngst gewählten tschetschenischen Präsidenten Alchanow nichts zu hören und zu sehen war. Dies habe das Vertrauen in die Regierung und die Sicherheitskräfte tief erschüttert.
Putin wandte sich erst drei Tage nach den Ereignissen in einer Fernsehansprache ans Volk, in der er das Vorgehen der Terroristen moralisch verurteilte und die Menschen aufrief, Stärke zu zeigen. Damit zeigten sich auch die Kritiker einverstanden. Lediglich der Ethnologe Sergej Arutjunow (Spezialist für Völker des Kaukasus) sprach sich öffentlich für eine Abtrennung Tschetscheniens von der Russischen Föderation aus. Einem solchen Schritt wird die russische Regierung jedoch nicht zustimmen können, weil die Gefahr der Bildung eines Terrorstaates unter Führung islamistischer Fundamentalisten ernsthaft zu befürchten ist. Emotionslos wie Putins Rede gehalten war, sollten auch die Massenmedien berichten.
Der Chefredakteur der Izvestija wurde vom Dienst suspendiert, weil die Zeitung Bilder des Sturms auf die Schule und der Opfer veröffentlicht hat und in der Zeitung Augenzeugen zu Wort kamen. Dem Journalisten wurde untersagt, Interviews zu den Gründen für seine Beurlaubung zu geben. Westliche Agenturen vermelden, daß inzwischen Journalisten aus Beslan verwiesen wurden, weil sie angeblich nicht über die notwendigen Genehmigungen zur Berichterstattung verfügten.
Diese Maßnahmen konnten allerdings nicht verhindern, daß gerade von seiten der russischen Presse scharfe Kritik am Vorgehen der Regierung geübt wurde. In der Bevölkerung wachsen Unmut und Unbehagen über die mangelnde Sicherheit.
Die ansonsten regierungstreue Prawda wagte es, das Schweigen der politischen Parteien zu kritisieren, und beklagte sogar, der russische Normalbürger habe zuerst von ausländischen Medien über Terrorakte in Rußland erfahren müssen, die eigenen Medien hätten mit erheblicher Verspätung informiert.
Mutig äußerte sich der Publizist Leonid Radsichowskij in einer Radiosendung von Echo Moskwa. Er sprach von einer groß angelegten geopolitischen Operation, die von Al Quaida gesteuert sei und eine Kriegserklärung an Rußland bedeute. Radsichowskij räumte zwar ein, Putin habe strategisch richtig gehandelt, taktisch träte jedoch der Zustand des russischen Staates offen zutage, der im Grunde gar kein Staat mehr sei, da die Duma nur noch eine politische Institution willenloser Beamter sei, die sich um den Zustand ihrer Datschen und die Höhe ihrer Bezüge sorgten anstatt irgendjemandes Interessen zu vertreten. Den Zustand der Sicherheitskräfte wie FSB, Alpha-Truppen - also der Eliten des Landes - und des Militärs bezeichnete der Politologe als besorgniserregend und gefährlich. Wenn eine Truppe von 1.000 Mann der besten Spezialeinheiten zehn Stunden lang von etwa 30 Kämpfern in Kampfhandlungen verwickelt werden könnte, sei es um die innere Sicherheit des Landes schlecht bestellt.
Ähnlich äußerte sich Stanislaw Belkowski gegenüber der Nesawisimaja Gaseta (Unabhängige Zeitung) zu den Folgen von Beslan und zur Einparteienpolitik des Kremls. Die Duma sei zur Parodie eines Parlaments verkommen. Nur wenn es gelänge, neue nationale Eliten zu bilden, die in der Lage seien, dem Volk gegenüberzutreten, hätten die Tragödien der vergangenen Wochen und Monate zur Stärkung der Regierung und des Staates beigetragen. Putin habe bislang nichts von dem erreicht und es sei durchaus denkbar, daß die Ära Putin in absehbarer Zeit zu Ende gehe. Ihm fehlten die Voraussetzungen zum Regieren, nämlich neue Projekte und eine Ideologie. Julian Mühlbacher
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