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Die Wende vor nun über zehn Jahren brachte den Atlasverlagen eine unerwartete Konjunktur. Auf der Landkarte Europas - bis nach Asien hinein - wurden Grenzen eindeutiger, und bis zur Wende ungenannte Länder tauchten auf. Wie diese aktuelle Welt sich heute in den deutschen Atlanten darstellt, ist deshalb durchaus eine interessante Frage.
Das Angebot an Atlanten auf dem Buchmarkt ist groß. Stellt man jedoch den einfachen Anspruch nach einem für Mitteleuropa informativem Kartenwerk, engt sich der Kreis der in Frage kommenden Werke schnell ein, denn die meisten Atlanten sind deutsche Ausgaben angelsächsischer Entwürfe, für die Mitteleuropa ein unterentwickeltes Anhängsel ist. Sie sind hier gänzlich unbrauchbar und ein teurer Mißgriff, denn sie kosten in der Regel mindestens 25 Euro aufwärts.
Ein Kartenwerk, das den mitteleuropäischen Raum vernachlässigt, ist der neue "Meyer" sicherlich nicht. Mit den Maßen 29 x 37 kommt er stattlich daher und vermittelt gleich auf der Innenseite des Deckels eine überlegt konzipierte Kartenübersicht. Die Maßstäbe sind nicht willkürlich gewählt, sondern in Dreierschritten aufeinander bezogen, zum Beispiel 1:1 Mio., 1:3 Mio. und 1:9 Mio. Da diese Zuordnung dort beibehalten wird, werden so auch weiter entfernte Räume zutreffend miteinander vergleichbar.
Aus der Entscheidung für den sinnvollen Maßstab 1:1 Mio. für die Folge der Mitteleuropakarten ergibt sich die Problematik der zweisprachigen Ortsnamen für die Karten Polens und der Tschechei, denn für alle Orte in den Ostgebieten, die heute auf dem Territorium der Republik Polen liegen und für die Randgebiete der Tschechei liegen geläufige deutsche Ortsnamen vor. Sie wurden vor nun fast 60 Jahren bei der Vertreibung von den Vertreibern durch eigene polnische oder tschechische Namen ersetzt. Diese Problematik löst der Meyer in einigen - leider nur wenigen Fällen - positiv, indem er den deutschen Ortsnamen benutzt und den anderssprachigen in kleiner Schrift beigibt, so bei Olmütz, Iglau und Prag wie auch bei Danzig und Elbing. Genau umgekehrt verfährt er aber bei Teplitz in Nordböhmen und bei Troppau in Sudetenschlesien sowie bei Stolp und Köslin. Zuerst steht der anderssprachige Ortsname, also Slupsk und Koszalin beziehungsweise Teplice und Opava, und dann der deutsche. Als dritte Version bietet der Atlas auf den selben Karten einsprachig tschechische und polnische Ortsnamen an, wo deutsche natürlich seit Generationen geläufig sind. Besonders unangenehm ist das dort, wo die kulturelle Bedeutung der deutschen Ortsnamen zweifelsfrei ist, wie bei der Bischofsstadt Leitmeritz und dem Weinort Tschernosek in Nordböhmen und den geschichtsträchtigen Orten Pohrlitz und Zwittau in Mähren. Alle diese Orte - letzterer immerhin der Geburtsort von Oskar Schindler - verschwinden fremdsprachig hinter dem kulturellen Horizont. Dabei ist für keinen dieser Orte in den drei Versionen die unterschiedliche Namensgebung aus einem unterschiedlichen historischen und bevölkerungsmäßigen Status begründbar. Die Verwirrung ist vollständig. Die Ortsnamen sind ganz offensichtlich jenseits jeder Bemühungen um eine vernünftige Regel gesetzt worden. Vielleicht machen wir uns auch zu viele Gedanken, und der Meyer-Redakteur hat sich bei dem Entwurf des Atlasses bei den Ortsnamen überhaupt keine Gedanken gemacht. Die Ortsnamen sind lediglich eine direkte Funktion des kulturellen Horizontes der verantwortlichen Geographen. Dabei liegt der gangbare Weg so nahe. Natürlich gebührt dem deutschen Namen in einem Atlas des deutschen Kulturkreises der Vorzug. Der anderssprachige wird genauso selbstverständlich beigegeben. Der großräumige Maßstab macht das im Meyer in der Regel ohne weiteres möglich.
Eine Alternative ist in diesem Falle das neue Westermann Atlaswerk "Dierke - Welt der Karten", das im Bereich der Ortsnamen fast makellos verfährt. Es schöpft in diesem Kartenwerk aus dem großen Fundus an Karten, die für die Schul- atlanten entwickelt wurden. Diese Qualität war bei Westermann keineswegs immer selbstverständlich. Auch dieser Verlag ging in den siebziger Jahren durch eine ähnliche Krise wie jetzt der Meyer, als 1974 mit der 185. Auflage des Dierke fast ein "polnischer Westermann" für deutsche Schulen erschien. Dort hat man damals gelernt, mit hervorragenden Ergebnissen im Bereich der Ortsnamen, der Übersichtlichkeit des Kartenbildes und weitgehend auch des Maßstabes. Vielleicht gelingt das jetzt auch dem Meyer, zu dieser Qualität aufzuschließen. Was den Umfang der Karten anbelangt, ist er im Bereich des Maßstabs dem Dierke bereits überlegen. Kein Atlas bringt wie der Meyer Mitteleuropa von den Pyrenäen bis an die Grenze des Baltikums in dem oben erwähnten vorteilhaften Maßstab. Damit ist er auch im Hinblick auf Europa aktuell und zukunftsorientiert. Schon deshalb ist er zu empfehlen. Nur bei den Ortsnamen müßte er eine kulturrelevante klare Linie finden. Das ist ihm zu wünschen, denn das Konzept bietet sonst alle Ansätze zu einem perfekten Atlas.
Der Meyer Lexikonverlag ist übrigens geschäftstüchtig. Der Atlas wird bei Weltbild unter dem Namen Brockhaus Atlas mit einem weitgehend identischen Kartenteil angeboten. Mit dieser Ausgabe spart der Käufer immerhin über 15 Euro. Gerolf Fritsche
Meyers neuer Weltatlas, 5. völlig neu bearbeitete Auflage, Meyers Lexikonverlag, Mannheim-Leipzig 2001, 45,50 Euro. |
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