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Wir waren Wolfskinder! Wir, das sind meine Geschwister Rudolf, Irmgard, Waltraud, Ulrich und ich, lebten bis Ende Januar 1945 in Wehlau und hatten eine unbeschwerte Kindheit. Unsere Eltern besaßen ein Sägewerk und betrieben Landwirtschaft. Vieles war im Krieg nicht einfach, doch wir Kinder empfanden diese Zeit als weder schlimm noch dramatisch. Regelmäßig gingen wir in Wehlau zur Schule und zu Hause hatten wir genügend Beschäftigung .
Im Januar 1945 kam dann der Befehl, Wehlau zu verlassen, und die Flucht begann. Mit Pferd und Wagen verließen wir unser Zuhause. Schon in Friedland holte uns die Russische Armee ein. Unser Vater wurde, wie viele andere deutsche Männer auch, von der Familie getrennt und nach Rußland verschleppt. Erst 1995 erhielten wir die Nachricht, daß er im Ural verstorben sei.
Von Friedland aus wurden wir mit vielen anderen geflüchteten Familien nach Brakupöhnen bei Gumbinnen in ein Arbeitslager getrieben. Dieses Lager befand sich unter russischer Verwaltung. Hier war das Leben unerträglich. Hunger, Krankheit und Tod rafften täglich viele Menschen dahin.
Wir lebten bis zum Frühjahr 1946 in diesem Lager, dann floh Mutter bei Nacht und Nebel mit uns Kindern, mit einem alten Handwagen, auf dem unsere übriggebliebenen Habseligkeiten verladen waren, aus dem Lager. Unser Ziel war Wehlau, unser Zuhause. Mehrere Tage waren wir unterwegs. Unser Ziel erreichten wir mit dem, was wir auf dem Körper trugen, da russische Soldaten uns unterwegs unsere letzten Habseligkeiten nahmen. Wir waren wieder zu Hause und hofften sehr, hier unseren Vater vorzufinden. Dem war aber nicht so. Unser Haus war zerstört, und so fanden wir für kurze Zeit eine Bleibe in Paterswalde. In der dortigen Gärtnerei wurde meine Mutter zur Arbeit eingesetzt. Heimlich brachte sie ein wenig Gemüse mit, gemischt mit Brennesseln ergab es immerhin eine schmackhafte Suppe, die uns am Leben erhielt. Schon bald mußten wir die Wohnung in Paterswalde wieder verlassen und wurden in Wehlau in einer großen Baracke in der Nähe der Alle untergebracht. Arbeiten mußte unsere Mutti in der Papierfabrik.
Eines Tages kamen Transporte mit russischen Familien, die sich in Wehlau ansiedelten. Sie übernahmen die Tätigkeiten der Deutschen. So entfiel der geringe Lohn, den unsere Mutter für ihre Arbeit erhielt und somit auch das Brot, das man sich dafür kaufen konnte. Das Leben für uns wurde immer schwerer.
Der Winter 1946 in Ostdeutschland war hart. Kälte, Schnee, kein Heizmaterial, keine Nahrung! Es war grausam. Unsere Mutti wurde krank. Es gab keine ärztliche Betreuung. Ich weiß nicht wie, aber den schlimmen und harten Winter haben wir überstanden. Im Frühjahr 1947 fuhr unsere Mutti, die sich wieder etwas erholt hatte, mit anderen deutschen Frauen mit dem Güterzug von Wehlau nach Litauen, um für uns Nahrungsmittel zu holen. Meine Schwester Irmgard nahm sie mit. Es dauerte lange, bis sie wieder zu uns nach Wehlau zurückkehrten. Unsere Mutter ist in Litauen wiederum sehr krank geworden. Es war der 2. Juni 1947, als wir unsere Mutti geschwächt und abgemagert mit einem Handwagen, den mein Bruder Rudolf besorgt hatte, vom Wehlauer Bahnhof abholten. Mein Bruder versuchte sofort einen russischen Militärarzt zu holen, der unserer Mutter helfen sollte. Es kam aber keiner, um zu helfen. Sie verstarb noch am selben Tag. Es war ein heißer Tag. Rudolf und ich erfüllten unserer Mutti ihren letzten Wunsch, wir begruben sie neben dem Grab unseres verstorbenen Bruders Peterchen. In einen Strohsack eingehüllt fand sie auf dem alten Friedhof in Wehlau ihre letz-te Ruhe. Kleine Sträuße Butter- blumen und Gänseblümchen schmückten ihr Grab, ein letztes Dankeschön ihrer Kinder.
Der Tod unserer Mutter hatte für meinen damals 13 Jahre alten Bruder und mich die Folge, daß wir die Verantwortung für unsere jüngeren Geschwister übernehmen und dafür sorgen mußten, daß sie und wir am Leben blieben. Das Kinderheim an der langen Brücke in Wehlau war überfüllt, für uns war kein Platz mehr. Was nun? Abgemagert waren wir alle, aber unser kleiner Bruder Uli bestand nur noch aus Haut und Knochen. Es wurde beschlossen: Rudolf fährt nach Litauen, um Lebensmittel zu erbetteln oder Arbeit bei einem Bauern zu suchen und uns dann nachzuholen.
Rudi fuhr, kehrte aber schon bald zu uns zurück und brachte einen Löschkebeutel voll Brot, Speck und Kartoffeln mit. Die Freude war riesengroß. Ein Festmahl wurde bereitet, das uns aber gar nicht bekam. Aus der Freude wurde Frust und Weh. Wir bekamen alle Bauchschmerzen und Durchfall, kurierten uns mit Kräutern und fuhren mit dem Güterzug von Wehlau nach Litauen. Wie lange die Fahrt dauerte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kamen wir in Litauen an. Wir gingen zu dem Bauern, bei dem Rudi gearbeitet hatte. Eine Nacht durften wir bleiben. Am nächsten Tag zogen wir weiter. Rudi blieb bei diesem Bauern, um dort zu arbeiten. Wir vier Geschwister versuchten nun, auch eine Bleibe zu finden. So begann für uns die Zeit der "Wolfskinder".
Wir zogen über das litauische Land. Die größte Sorge war immer, werden uns die Bauern verstehen? Werden sie uns etwas zu essen geben? Das Essen war für uns damals das Allerwichtigste! Werden wir auch irgendwo eine Übernachtung bekommen? Täglich waren wir an einem anderen Ort. Nicht alle Litauer waren nett und freundlich zu uns Kindern. Oft wurden wir vom Hof gejagt, auch Hunde wurden auf uns gehetzt. Es hieß dann immer: "Prussukai isch Woketia" (Bettler aus Deutschland).
Enttäuscht und traurig zogen wir dann weiter. Es gab aber auch Bauernfamilien, die uns freundlich aufnahmen und bewirteten. Wir durften uns dann richtig mit warmem Wasser und Kernseife waschen, bekamen eine warme Suppe und etwas Proviant für den Weg. Singend und wohlgelaunt zogen wir dann weiter. Neigte sich die Sonne dem Untergang entgegen, hieß es Nachtquartier suchen. Auf den Höfen der Bauern und in ihren Scheunen waren wir ungebetene Gäste. Unser Nachtlager war in der Regel unter Büschen in Straßengräben, aber in der Nähe von Wegen, die wir gerade gingen. Die Nähe der Wege gab uns ein wenig das Gefühl der Sicherheit. Gewärmt haben wir uns, indem wir uns aneinander kuschelten. Wenn ich heute das Gedicht von den "Drei kleinen Spatzen" lese, die sich in ihrem Nest dicht aneinander kuschelten, um sich zu wärmen, dann erinnere ich mich immer wieder an unsere Zeit in Litauen zurück.
Wenn es aber regnete und kühl wurde, versuchten wir auf den abgemähten Feldern im Heu oder in Getreidehocken eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Wir durften uns aber von den Bauern nicht erwischen lassen. Ich glaube, dann hätte es großen Ärger gegeben. Wie oft wir, ob im Straßengraben oder am Waldesrand unter den Bäumen oder in den Hocken, von Tieren besucht und vielleicht auch abgeleckt wurden, weiß ich nicht!
Oft hörten wir das Heulen der Füchse und Wölfe. Dann rückten wir noch enger aneinander. Die Müdigkeit und die Gedanken an zu Hause ließen uns dann trotz der Angst einschlafen. Der Schimmer des leuchtenden Mondes und der Sterne gab uns das Gefühl, in der Nacht nicht ganz im Dunkeln zu sein. Mit den ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages meldeten sich der Hunger und das Bewußtsein, etwas für das leibliche Wohl tun zu müssen. Gewaschen und gebadet wurde in kleinen Teichen. Von Zeit zu Zeit wurden auch unsere Sachen, die wir am Körper trugen, auf diese Art gewaschen, auf der Wiese zum Trocknen ausgelegt und danach wieder angezogen. In der Zwischenzeit sonnten wir uns oder hüpften, so nackt wie wir waren, auf der Wiese herum. Wenn es hieß, wir müssen weiter, und die Sachen noch nicht ganz trocken waren, dann mußten die feuchten Sachen am Körper trocknen.
So vergingen Tage und Wochen, bis wir uns wieder bei unserem Bruder Rudi einfanden, um über unsere Erlebnisse zu berichten. Bei der Verabschiedung sagte er zu mir: Der Herbst naht, und der Winter ist nicht mehr weit, versuche die Kinder unterzubringen! Wo sollte ich die Kleinen unterbringen? Welcher Bauer belastet seine Familie mit fremden Kindern im Alter von sechs, acht, elf und zwölf Jahren? Wir hatten keine Schuhe, keine warme Kleidung. Ich war der Verzweiflung nahe. Ich ärgerte mich damals sehr über meinen Bruder. Wenn wir nicht umkommen wollten, mußte aber etwas geschehen. Die angesprochenen Bauern gaben uns zwar zu essen und ein wenig Proviant für den Weg, aber behalten wollte uns keiner. Wir gaben nicht auf. Die Tage vergingen, und ein Tag glich dem anderen. Es muß Sonntag, vielleicht sogar Erntefest gewesen sein. Wir saßen am Waldrand in der Nähe eines Weges und verzehrten unser Erbetteltes, als mehrere geschmückte Pferdewagen mit gut gekleideten Leuten an uns vorbeifuhren. Plötzlich hielt eine Pferdekutsche. Der Bauer sagte etwas, was wir aber nicht verstanden. Er zeigte auf meine jüngere Schwester Irmgard und lud sie zum Aufsitzen ein. Begeistert von den Pferden und der Kutsche nahm meine Schwester diese Einladung an. Schnell verschwand sie mit der davonfahrenden Kutsche. Sie rief uns noch etwas zu, was wir aber nicht verstanden. Alles ging so schnell. Ich wußte nicht, wer der Bauer war und wo er hinfuhr. Ich hatte zwar eine Sorge weniger, aber Irmgard verloren wir aus den Augen.
Jetzt mußte ich noch für meine kleine Schwester Waltraud, für meinen kleinen Bruder Ulrich und für mich eine Bleibe finden. Da Uli erst sechs Jahre alt war, stand für uns fest, daß ich mit ihm zusammen bleibe. An einem schönen Spätsommertag führte unser Weg an einem hübschen, gut gepflegten Bauernhaus vorbei. Erst trauten wir uns nicht, dort anzuklopfen. Zu unserem Erstaunen wurden wir aber sehr herzlich aufgenommen und reichlich bewirtet. Bei der Familie gefiel es uns gut. Die Bauersfrau hatte unsere Waltraud, die acht Jahre alt war, sofort in ihr Herz geschlossen und fragte sie, ob sie bei ihr bleiben wolle. Wir waren einverstanden, und Waltraud blieb bei der Familie. Auch Uli und ich durften eine Nacht in der Scheune im Heu übernachten. Es war ein herrliches Gefühl, ein Dach über dem Kopf, keine Angst zu haben und nicht das Geheul der Wölfe zu hören. Wir kuschelten uns aneinander, sprachen unser Gebet und schliefen fest ein. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück verabschiedeten wir uns von Waltraud. Uli und ich zogen weiter, auf der Suche nach einer Bleibe für uns beide. Doch alle Bemühungen schlugen fehl. Zwei Kinder wollte keiner beherbergen, und Uli war zum Arbeiten noch zu klein und zu schwach. Durch das viele Laufen hatte sich Uli die Knöchel aufgeschlagen, und die Füße taten ihm weh, er konnte und wollte auch nicht mehr. So suchten wir uns einen geeigneten Weidenbusch in einem Straßengraben und bereiteten uns ein Nachtlager. Ich wies meinen Bruder an, hier sitzenzubleiben, sich auszuruhen und auf meine Rückkehr zu warten, da ich in der Umgebung etwas zum Essen erbetteln wollte. Müde und hungrig zog ich los. Die Bauernhöfe in Litauen liegen weit auseinander, und so weiß ich nicht, wie lange ich gebraucht habe, um zu unserem Rastplatz zurückzukehren. Ich hatte ein paar Eier und ein paar Stückchen Brot bekommen. Uli mochte es, ein Stückchen Brot in ein aufgeschlagenes Ei zu tauchen und dann zu essen. In der Freude, meinem kleinen Bruder diese Leckerbissen anbieten zu können, beeilte ich mich auf dem Rückweg zum Rastplatz sehr. Als ich unseren Weidenbusch erreichte, war mein Schreck groß. Uli war nicht mehr da. Wo ist er? Habe ich mich verlaufen? Nein, Spuren zeugten davon, daß wir hier übernachten wollten. Es wurde bereits dunkel, und ich war der Verzweiflung nahe. Ich rief so laut ich konnte, suchte noch alle Bauernhöfe in der Umgebung ab. Er war nicht zu finden. ()
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