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Die Deutschen sterben aus" lautet die Prognose des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden. In 65 Prozent aller Haushalte leben keine Kinder mehr und in 36 Prozent aller Haushalte lebt nur eine Person. Die Bevölkerung schrumpft und altert dramatisch.
Von den 82,5 Milionen sind 7,3 Millionen Ausländer, das sind rund 8,9 Prozent. Allein 2002 wurden 155.000 Ausländer eingebürgert.
Vor diesem aktuellen Hintergrund erinnerte man in der ehemaligen kurhessischen Residenzstadt Kassel und im 60 Kilometer entfernten Rotenburg an der Fulda an die völlig entgegengesetzte demographische Lage im Deutschland des 19. Jahrhunderts, als Millionen Deutsche in viele Teile der Welt, insbesonde-re nach Nordamerika, auswanderten. Wohin sie auch gingen, haben sie Großartiges zum wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und zivilisatorischen Fortschritt in ihren neuen Vaterländern geleistet. Es täte dem lädierten Geschichtsbewußtsein der Deutschen gut, sich auch dieser Tatsachen zu erinnern.
In Kassel und Rotenburg an der Fulda war es speziell die Erinne- rung an die vor 150 Jahren erfolgte erste organisierte deutsche Auswanderung nach Chile, einem Land, das dadurch, bis in die Gegenwart spürbar, viele Impulse und Prägungen in allen gesellschaftlichen Bereichen erhalten hat.
Das dokumentierte sich vor einem Jahr im November 2002, als der deutschen Einwanderung im südchilenischen Seengebiet um den Llanquehuesee unterhalb des Osorno mit zahlreichen Veranstaltungen unter großer Beteiligung nicht nur der deutschstämmigen Bevölkerung gedacht wurde.
Der Deutsch-chilenische Freundeskreis hatte 2002 an den Einwanderungsfeiern in Chile teilgenommen. Mit seinem Vorsitzenden, Botschafter a. D. Adolf Ederer, besuchte er nun das hessische Rotenburg, von dem aus 1846 40 Personen aus neun Familien aufbrachen, um am 19. April von Hamburg aus mit dem Schoner "Catalina" nach Corral bei Valdivia zu segeln, wo sie am 25. August praktisch im Urwald landeten.
Die Entscheidung zur Auswanderung war, wie in vielen anderen Teilen Deutschlands, bestimmt von wirtschaftlicher Not und der Suche nach einer besseren Zukunft geprägt. Die Konkurrenz des mechanischen Webstuhls hatte der Leineweberei den Todesstoß versetzt, die zusammen mit der Landwirtschaft ohnehin nur ein karges Leben der meist kinderreichen Familien ermöglicht hatte. Die meisten Auswanderer gingen den kürzesten Weg und landeten am nächstgelegenen Hafen der amerikanischen Ostküste, ob es New York in Nordamerika oder Rio und Buenos Aires in Südamerika war.
Die Rotenburger setzten sich bewußt von diesen Wegen ab. Sie folgten dem Ruf der beiden Brüder Philippi, des Professors am Kasseler Polytechnikum Rudolph Amandus (1808 bis 1904) und Bernhard Eunoms, der bereits in Chile lebte und als erster das Llanquehue-Gebiet erkundet hatte. Der Kasseler Professor hatte bereits 1840 einen Beitrag in einem Auswanderer-Handbuch über Südchile geschrieben. Er warb über einen Freund die aussiedlungswilligen Handwerker aus Rotenburg an. Er wollte ihnen in ihrer bedrängten Lage helfen, ein freies, zukunftsweisendes Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Nach dem Scheitern der 1848er Revolution fürchtete der liberale Kasseler Stadtrat Repressionen und flüchtete ins Asyl nach Braunschweig. Von Chile aus drängte ihn sein jüngerer Bruder, ihm zu folgen. Er tat es 1851 und ging damit den Weg der durch ihn angeregten Auswanderer.
Dort wurde er Leiter eines Lyzeums in der Provinzhauptstadt Valdivia, später Profesor für Botanik und Zoologie an der Landesuniversität und wenig später auch des Staatlichen Museums in Santiago.
Er wurde wie sein Bruder, der unter tragischen Umständen von Araukanern ermordet wurde, zu einer allgemein anerkannten und bis heute im Bewußtsein der Menschen lebenden Gestalt der chilenischen Geschichte. Als er am 24. Juli 1904 96jährig in Santiago verstarb, nahmen am Staatsbegräbnis über 30. 000 Menschen teil.
Die Auswanderer aus Rotenburg, die dem Ruf der beiden Philippi-Brüder folgte, wußten, was sie wollten. Sie wollten die Chance der Entwicklung auf eigenem Boden in einem so gut wie menschenleeren Land nutzen und nicht in den Schmelztiegel New York.
Dafür nahmen sie in Kauf, was ein Augenzeuge berichtete; "Der dichteste Urwald mit seinen Baumriesen und Schlinggewächsen, die keinen Sonnenblick durchließen, mit seinem ewig feuchten, morastigen Boden, den zahlreiche faulende Stämme, Wurzeln und Äste unpassier- bar machten, reichte bis an die Küste heran."
Den ersten folgten viele andere Auswanderer. Für alle Ankömmlinge legte Carl Anwandter, der 1850 nach Chile kam, den Eid ab, an den der Repräsentant des Deutsch- chilenischen Freundeskreises in Deutschland, Klaus Rudek, bei der Veranstaltung in Kassel am 8. Ok- tober 2003 in Kassel erinnerte:
"Wir werden arbeitsame Chilenen sein, wie nur der beste unter ihnen es sein kann!
Wir werden unser Adoptivvaterland mit der Entschlossenheit und Tatkraft eines Mannes verteidigen, der sein Vaterland, seine Familie und seine Interessen verteidigt."
In einer Zeit, in der Mautgebühren und Dosenpfand die Gemüter erregen und ein Altkanzler das Verhalten eines Teils seiner Landsleute "zum Kotzen" findet, sei ein Blick in die Geschichte angeraten.
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