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„Lange verkannt und von wenigen besucht, lag das Oberland in weltvergessener Stille...“ beginnt ein Reiseführer aus dem Jahr 1927. Das Oberland - wer es erlebt hat, heute wieder erlebt, kann verstehen, daß hier die Stille zu Hause ist. In den Wäldern, an den Seen, auf den sanften Hügeln dieses Landes, in dem sich die deutschen Siedler aus Thüringen, Hessen, Schlesien, aus dem Elsaß und aus der Schweiz wohlfühlten, weil es ihrer Heimat ähnelte. Deshalb wurden sie schnell heimisch und brachten das Land schon früh zu Wohlstand. Von dem zeugten die mächtigen Kirchen, die stattlichen Höfe, die großen Güter mit den so endlos erscheinenden Äckern und Feldern.
Bis in unsere Zeit hielt sich hier deutsches Brauchtum wie die alten deutschen Volkslied er, die noch bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg in den Spinnstuben gesungen wurden und die wohl schon Herder in seinen jungen Jahren hörte. Von der schönen Malone, von den zwei Königskindern, vom Wode und des Goldschmieds Töchterlein, vom traurigen Gärtner und vom falschen Knaben. Und es hielten sich Trachten und Festtagsbräuche, Märchen, Sagen und wunderliche Geschichten. Auch hierbei mag die Landschaft mitgesprochen haben, die - anders als im nördlichen Ostdeutschland oder in Masuren - durch die Laubwälder mit ihrem reichen Buchenbestand ein so lichtes, traumschönes Gepräge bekamen. Wie Agnes Miegel in ihrem Gedicht über den Buchenwald schreibt: „Es war der schönste Wald, den ich gekannt, mit seinem fremden, reichen Märchenleben...“ Auch in dem alten Reiseführer wird diese Märchenwelt heraufbeschworen: „Am Waldrand halbversteckt liegen Häuschen wie das Großmutterhaus von Rotkäppchen.“ Vielleicht haben deshalb vor allem die Siedler aus dem deutschen „Märchenland“ Hessen ihre alten Mären durch Jahrhunderte bewahrt, und die Thüringer mit ihrer Sangesfreudigkeit bewirkt, daß sich hier die alten Volkslieder am längsten von allen deutschen Gauen erhalten haben. Hinzu kommt, daß im Oberland der Orden schon im 13. Jahrhundert viele Burgen - oft auf Hügeln der alten Prußenburgen - errichtete und prächtige Ordenskirchen baute wie die von Saalfeld, Sonnenborn, Liebemühl, Weinsdorf und Schnellwalde. Sie spielen in vielen Sagen und Geschichten eine Rolle.
Kein Wunder also, daß im Geserichsee im südlichsten Zipfel des Kreises Mohrungen eine verwunschene Prinzessin gelebt haben soll. Denn als einmal ein Fischer über den See fahren wollte, trat eine schwarzgekleidete Jungfrau an ihn heran und bat ihn, sie doch über den See zu fahren, da sie nach Schneewalde zur Kirche wolle. Sie beschwor ihn aber, beileibe nicht zu fluchen, da sonst ein großes Unglück geschehen würde. Und wenn ein Sturm aufkäme, sollte er nicht traurig sein, er würde alles Verlorene am anderen Ufer wiederfinden.
Der Fischer erfüllte den Wunsch des schönen Mädchens, und als sie mitten auf dem See waren, kam ein Sturm auf, der die Mütze vom Kopf des Fischers wehte, so daß sie in das Wasser fiel und fortgetrieben wurde. Da fing er fürchterlich an zu fluchen, sah aber bald ein, daß die Mütze verloren war und fuhr barhäuptig an das andere Ufer. Das schöne Mädchen, das bis dahin weinend im Boot gesessen hatte, stand auf und sagte traurig: „Du hättest mein Schicksal ändern können, denn ich bin eine verwunschene Prinzessin, und hättest du nicht geflucht, so wäre ich erlöst gewesen. Nun muß ich noch zehnmal so tief im See bleiben!“ Mit diesen Worten ging sie in das Wasser und war bald verschwunden.
Eine andere Sage vom Geserichsee erzählt von einer großen goldenen Kugel, die vor vielen, vielen Jahren auf dem Schloßberg lag, der sich auf dem Bukowitzwerder erhebt. Diese Kugel lockte auch zwei junge Mädchen an, Schwestern aus einem der Dörfer am See. Sie bestaunten die Kugel, und die Älteste sagte: „Wenn ich die Kugel haben könnte, würde ich mir lauter schöne Kleider kaufen.“ Die Jüngere meinte dagegen: „Nein, ich würde sie lieber in die Kirche tragen.“ Als die älteste Schwester versuchte, die Kugel aufzunehmen, war diese schwer wie ein Stein und ließ sich auch nicht einen Fingerbreit heben. Als aber die Jüngste nach ihr griff, wurde die Kugel leicht wie eine Feder, und das Mädchen konnte sie in der Schürze in die Kirche von Schnellwalde bringen. Dort wurde aus der goldenen Kugel eine Glocke gegossen, die einen wundersamen Klang hatte. Diese jüngere Schwester aber hatte zur Bedingung gestellt, daß ihre Familie nicht die Begräbniskosten zu bezahlen brauchte, falls sie sterben sollte. Als sie nicht lange darauf unerwartet verschied, hielt sich niemand an dieses Vermächtnis, und die Kirche verlangte die vollen Begräbniskosten. Da fing die Glocke zu läuten an, ohne daß am Strang gezogen wurde, und zersprang dabei in lauter Stücke.
In der Kirche von Schnellwalde lag unter der Kanzel ein seltsamer Stein. Es soll ein versteinerter Mensch sein, ein Ritter, den seine verlassene Braut verwünscht hatte. Denn sie war nur ein Bauernmädchen, aber wohl sehr schön, so daß der Ritter von Schnellwalde sie sich zur Braut erkoren hatte. Aber dann kamen ihm doch Bedenken, was seine Standesgenossen zu der Brautwahl sagen würden, und er löste das Versprechen. Als er einmal auf dem Weg nach Schliewe war, stellte die verschmähte Braut sich ihm in den Weg und verwünschte ihn, so daß er zu Stein wurde. Von da an wurde die Stelle gemieden, denn da sollte es nicht geheuer sein, und weil niemand dort pflügen wollte, breitete sich ein großer Dornbusch aus. Auch als später der Stein in die Kirche gebracht wurde, blieb der Dornbusch stehen. Er soll noch bis in unsere Zeit gegrünt haben - ob er heute noch dort steht?
Nicht zu verwechseln ist der versteinerte Ritter mit dem Teufelsstein vor der Kirche von Schnellwalde. Früher soll er vor dem Altar gestanden haben, aber dann soll dort ein Verbrechen geschehen sein, und der Stein kam vor das Portal. Mehrfach haben die Schnellwalder versucht, den Stein in den Wald zu bringen, aber er kam immer wieder über Nacht zurück. Es hieß, der Teufel habe ihn auf seinem Rücken wieder zur Kirche gebracht.
Die Mär von der singenden Eiche bei Nosewitz erinnern ein wenig an die Rattenfängersage von Hameln. Diese uralte, schon hohle Eiche stand in einem Fichtenwald. An jedem Sonntag kamen dort aus der Höhlung wunderbare Klänge, die sich wie überirdischer Gesang anhörten. Den Kindern war es verboten, dorthin zu gehen. Die Eltern warnten sie, daß sie in die Eiche hineingezogen würden. Aber einige Kinder gehorchten nicht, sie schlichen sich zum singenden Baum, lauschten am Stamm und - waren verschwunden. Sie wurden nie wieder gesehen. Der Gesang verstummte erst, als ein Sturm den hohlen Baum fällte.
Das sind Sagen aus sehr alter Zeit, aber es gibt auch unheimliche Geschichten aus den Tagen unserer Urgroßeltern. Da stand in Güldenboden ein Bauernhaus, in dem es seltsam zuging. Zuerst starben Bauer und Bäuerin noch jung an Jahren auf rätselhafte Weise. Der länger lebende Partner heiratete zwar wieder, aber auch dann grassierte der Tod - immer nach Widerheirat des überlebenden Ehepartners. Tod - Heirat - Tod schien eine unheimliche Schicksalskette zu sein. Es kam dabei zu einer „unentwirrbaren Stiefgeschwistergeschichte“. Im Dorf heißt es: „Sie mußten ja sterben, denn im Haus ist ein Mutterbalken!“ Die Todesserie endete erst, als das Haus verkauft wurde. Bei dem „Mutterbalken“ handelte es sich, wie der ostdeutsche Historiker Dr. Wilhelm Gaerte ausführt, mit größter Wahrscheinlichkeit um einen „Moderbalken“. Da das Oberland zum hochdeutschen Sprachgebiet Ostdeutschlands gehört und die hochdeutsche Entsprechung für das sonst übliche Moder „Mutter“ ist, dürfte diese Deutung stimmen. Die Todesserie in dem alten Bauernhaus wäre also einem modrigen, vom Schwamm befallenen Balken zuzuschreiben.
Viel könnte man noch berichten von versunkenen Kirchen und Burgen, von verzauberten Frauen und bestraften Rittern, von allerlei Spuk und Teufelszeug. So wie es noch vor gar nicht so langer Zeit in den Spinnstuben erzählt wurde, wenn die Abende lang und dunkel waren.
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