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Wächter des Koran

 
     
 
Offiziell ist die Türkei laizistisch - Staat und Religion sind getrennt - und doch gibt es Tausende muslimischer Religionsbeamte. Die türkische Religionsbehörde "Diyanet" ("Anstalt für Religion") ist die Herrin über 76000 Moschee
n - seit Bestehen der Republik eine Instanz, an der keiner vorbei kann - gerade auch türkische Christen nicht. Ali Bardakoglu, Chef der "Diyanet", gibt sich nach außen dialogbereit, studierte im Westen und ist zugleich Wächter der richtigen Islamauslegung in seiner Heimat.

Die "Süddeutsche Zeitung" beschrieb anläßlich des Papstbesuches in der Türkei Ende November den Zwiespalt, in dem Bardakoglu arbeitet: Er ist religiöses Oberhaupt und Staatsbeamter. Vor allem aber lobte sie Bardakoglu und dessen Behörde: "Er ist kein staatlicher Erfüllungsgehilfe." Seit seinem Amtsantritt 2003 bemühe sich Bardakoglu darum, modernisierend zu wirken, wolle Imame zum Studium verpflichten, Frauen als Predigerinnen ausbilden lassen. Sogar textkritische Untersuchungen des Koran treibe er voran.

Derart als Neuerer gefeiert, bietet sich Bardakoglu mit der von ihm geleiteten "Diyanet" als zentraler Gesprächspartner geradezu an. Die ersehnte muslimische Autorität, die den Westen versteht, und befugt ist, für die Gläubigen der Türkei mit einer Stimme zu sprechen. Die gute Atmosphäre gegen Ende des Papstbesuches steht indes im Gegensatz zum Alltagsleben der türkischen Christen. Sie ist gerade auch bestimmt durch die Entscheidungen der Religionsbehörde als verlängertem Arm des türkischen Staates.

Christen werden schikaniert. Übergriffe gegen Priester und sogar Morde an ihnen sind keine Seltenheit. Sie bleiben meist ungesühnt auch aufgrund der Verquickung von Staat und Religion, die nur oberflächlich eine Trennung ist. Wer sich offen zum Christentum bekennt, muß mit einem Verfahren und bis zu neun Jahren Haft rechnen.

Und so wenig wie "Diyanet" christliche Missionstätigkeit in der Türkei duldet, so sehr ist das Ministerium selbst bestrebt, zu missionieren, türkische Gläubige im Ausland zu beeinflussen. Erst 2005 brachte es zwei Bücher auf den Markt, in denen Westler ihr Bekehrungserlebnis schildern - zum Islam selbstverständlich.

Mit der "Ditib", der "Türkisch-islamischen Union der Anstalt für Religion" unterhält Bardakoglus Religionsbehörde seit 1984 zudem die mitgliederstärkste muslimische Organisation in Deutschland, kontrolliert 800 Moscheen und 500 Imame. Ihr Vorsitzender ist der Religionsattaché der türkischen Botschaft, Ridvan Cakir. Vorbeter für Deutschland holt sie aus der Heimat - sie werden nach vier Jahren zurückgeschickt, sprechen in der Regel kein Deutsch. Von islamischem Religionsunterricht in deutscher Sprache hielt "Ditib" bis vor kurzem nichts - das "Ja" verknüpfte man dann gleich mit der Forderung, den Türkischunterricht auszubauen.

Auch das trägt zum Bild aggressiver Mission im Ausland, gepaart mit Repression gegenüber anderen Religionen am Bosporus bei, verstärkt den Eindruck einer gemeinsamen Stoßrichtung von türkischem Staat und "Diyanet", den Bardakoglu entschieden zurückweist.

"Der politischen Praxis des Propheten wird kein islamisches Land besser gerecht als die Türkei", verkündete Cakir damals im Interview mit der "Zeit". Diese politische Praxis beinhaltet bis heute, daß Christen keine Kirchen bauen können, christlichen Geistlichen in der Türkei Repressionen und Ausweisung drohen, Eigentumsrechte der Gemeinden nicht anerkannt werden. Christen sind in der Türkei faktisch ohne Rechtsstatus, während "Ditib" in Deutschland die Vorzüge eines Rechtsstaates nutzt, tragen "Diyanet"-Beamte dazu bei, die laizistischen Gesetze der Türkei vor allem gegen Christen anzuwenden.

So ließen sich beispielsweise türkische Behörden 2004 nach jahrelanger Blockade dazu herab, den einzigen protestantischen Kirchenneubau seit Gründung der Türkei zur Nutzung freizugeben. Die Bilanz des Dialogs seitens der "Diyanet": Seit Einführung der Religionsbehörde unter Kemal Atatürk 1924 sank der Anteil der christlichen Bevölkerung der Türkei von über 20 Prozent auf unter ein Prozent, so die "Gesellschaft für bedrohte Völker".

Bardakoglu bemüht sich zwar, fanatische Moslems unter Kontrolle zu halten - beispielsweise dadurch, daß "Diyanet" Druck ausübt, alle Grundbucheintragungen von Moscheen zu erhalten und somit die Kontrolle darüber, wer was predigt. Der Druck auf die Religionswächter selbst ist aber nicht gering. Türkisch-islamische Internetseiten fordern die Religionsbehörde zum Vorgehen gegen Christen auf, wie die evangelische Nachrichtenagentur "idea" dokumentiert.

Was Bardakoglu vom Papst indirekt forderte, nämlich andere Religionen als "Bereicherung" anzusehen, gilt somit offenbar nur sehr bedingt für die "Diyanet"-Politik.

Vornehme Zurückhaltung in politischen Fragen übt die "Diyanet" vor allem, wenn andere Glaubensgemeinschaften seitens des Staates gegängelt werden. Auch der EU-Beitrittsprozeß hat daran wenig geändert, wie orthodoxe Geistliche in der Türkei betonen.

Foto: Besuch vom Papst: Einseitige Suche nach Gemeinsamkeiten
 
     
     
 
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