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Bis Mitte der sechziger Jahre war es der von der Demokratischen Republik (Nord-)Vietnam (DRV) unterstützten Nationalen Befreiungsfront (FNL) gelungen, große Teile Südvietnams wenn nicht unter ihre Kontrolle, so doch unter ihren Einfluß zu bringen. In den Städten und deren Umland herrschte jedoch noch die von den USA unterstützte Regierung der Republik (Süd-)Vietnam. Letzteres versuchten DRV und FNL vor 36 Jahren mit einer lange vorbereiteten und mit einer großen Kraftanstrengung verbundenen Offensive zu ändern.
Am 31. Januar 1968 wurden fünf der sechs großen Städte, 36 der 44 Provinzhauptstädte, 64 Bezirkshauptstädte und alle kreisfreien Städte nahezu zeitgleich von über 80.000 FNL-Kämpfern und DRV-Soldaten angegriffen. Die Überraschung war eine nahezu totale. Der Mondneujahrstag, welcher der Tet-Offensive ihren Namen gab, gilt in Vietnam als der heiligste Tag des Jahres und unmittelbar vorher hatten erst die Angreifer eine siebentägige Waffenruhe angekündigt. Die Hälfte der südvietnamesischen Regierungssoldaten befand sich auf Heimaturlaub. Die militärischen Nachrichtendienste hatten keine Warnung ausgesprochen. Die US-Amerikaner hatten ihrem Gegner eine derartige logistische Leistung nicht zugetraut.
Erschwerend kam hinzu, daß die US-Streitkräfte zuvor vom Gegner abgelenkt worden waren. Im Bergdorf Khe Sanh im äußersten Norden Südvietnams hatten die US-Marines eine kleine Basis. Als nun die DRV zwei Divisionen mit etwa 20.000 Mann in unmittelbarer Nähe zusammenzog und am 21. Januar, also zehn Tage vor dem Beginn der Tet-Offensive auch tatsächlich mit Artillerie angriff, befürchteten die US-Strategen ein zweites Dien Bien Phu, sprich eine kriegsentscheidende Kesselschlacht, wie sie die Vietnamesen knapp 14 Jahre zuvor erfolgreich den Franzosen geliefert hatten. Der damalige US-Präsident Lyndon B. Johnson ging sogar so weit, dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs General Earle Wheeler das Versprechen abzunehmen, diese Basis unbedingt zu halten. Entsprechend groß war das US-Engagement vor Ort. Aus ganz Südvietnam wurden 15.000 Elitesoldaten zusammengezogen. Außer 50.000 GIs wurden 100.000 Tonnen Bomben für die Verteidigung des Stützpunktes im Norden eingesetzt - die in Saigon fehlten.
Trotz des gelungenen Überraschungsmoments erwies sich die Tet-Offensive jedoch als militärischer Mißerfolg. Binnen einiger Tage wurden die Angreifer wieder aus den Städten vertrieben, wobei Hue eine Ausnahme darstellt, welche die Regel bestätigt. DRV und FNL verloren mit um die 40.000 Mann in diesen wenigen Wochen Vietnamkrieg, ungefähr so viel wie die USA in neun Jahren. Für diesen Mißerfolg gibt es eine Reihe von Gründen. Zum einen fand die FNL bei den Städtern nicht die Unterstützung, die sie vom Lande gewohnt war. Es ist nun nicht so, daß die Städter die neuen Machthaber bekämpft hätten, aber sie unterstützten sie auch nicht. Zum anderen hatte die Befreiungsfront durch das Abweichen von der asymmetrischen Guerillakriegsführung die US-Streitkräfte in die Lage versetzt, ihre materielle Überlegenheit ebenso konsequent wie rücksichtslos einzusetzen. Stadtviertel, in denen Gegner vermutet wurden, wurden einfach platt gemacht. Bezeichnend hierfür ist der Kommentar eines örtlichen US-Kommandeurs nach der Rückeroberung einer Provinzhauptstadt: "Wir mußten Ben Tre zerstören, um es zu retten."
Entsprechend groß war die Zahl der Opfer der Tet-Offensive und ihrer Abwehr. 670.000 Zivilisten wurden obdachlos, 25.000 wurden verwundet und über 14.000 fanden den Tod, davon alleine in Saigon über 6.000. Angesichts solcher Kriegsmethoden und Kollateralschäden sank bei den US-Amerikanern zunehmend der von der Führung vermittelte Glaube, in Vietnam zum Wohle der Vietnamesen zu sein. Ein Extremfall ist das Massaker von My Lai, als wenige Wochen nach der Tet-Offensive ein US-Trupp in einem südvietnamesischen Dorf erst die Frauen vergewaltigt und anschließend alle 200 Dorfbewohner erschoß.
Es ist jedoch nicht nur der Glaube an die Güte der eigenen Sache der schwindet, sondern auch die von der politischen und militärischen Führung immer wieder genährte Illusion, daß der Sieg zum Greifen nahe sei und es nun gelte, nicht noch im letzten Moment zu schwächeln. Immerhin war es dem Gegner gelungen, für einige Zeit fast ganz Vietnam in seine Gewalt zu bringen. Die Tet-Offensive hatte gezeigt, daß die USA noch nicht einmal unumschränkter Herr im eigenen Hause waren. Zu den Zielen der Offensive hatte nämlich auch die US-Botschaft in Saigon gehört. Trotz der Anwesenheit von über einer halben Millionen GIs in Südvietnam hatte es sechs Stunden gedauert, um die Herrschaft über dieses Fleckchen USA zurückzuerlangen.
Präsident Johnson klagte in sei-nen Memoiren über diese Zeit der Zäsur rückblickend: "Unsere Presse und unser Fernsehen berichteten sehr emotional über die Tet-Offensive. Die Massenmedien schienen darin zu rivalisieren, wer die grausigsten und deprimierendsten Berichte bringen konnte. Leitartikler, die gegen eine amerikanische Beteiligung in Südostasien waren, übernahmen die Führung." Johnson muß bei seiner Presseschelte an Männer wie den CBS-Nachrichtensprecher Walter Cronkite gedacht haben, der angesichts der Bilder aus Südvietnam die Frage aufwarf: "Was um alles in der Welt geht dort vor? Ich dachte, wir wären dabei, diesen Krieg zu gewinnen!"
"Daß Teile der Presse ... so reagierten, wie sie es dann taten, verwunderte mich nicht", schreibt Johnson etwas weiter in seinen Erinnerungen, "Überrascht und enttäuscht war ich jedoch, daß die Offensive des Feindes eine so deprimierende Wirkung auf verschiedene Personen innerhalb und außerhalb der Regierung ausübte, die ich immer für entschieden und unerschütterlich gehalten hatte." Zu diesen Personen gehörten auch die sogenannten Weisen. Über eine Unterredung dieser "Weisen" mit dem Präsidenten am 25. März 1968 urteilte dessen zeitweiliger Sicherheitsberater, daß seit dem Treffen im vorangegangenen November sich ein Wandel vollzogen habe. "Damals hätte alles auf einen langsamen, aber stetigen Fortschritt gehofft. Diese Hoffnung sei durch die Tet-Offensive erschüttert worden" und deshalb sei das nunmehrige Gespräch "nicht sonderlich hoffnungsvoll" gewesen. Angesichts dieses Stimmungswechsels selbst bei den "Weisen" stellte Johnson seinem Vize die Suggestivfrage: "Wenn sie schon von der Auswirkung der Tet-Offensive so stark beeinflußt waren, was mußte dann der Durchschnittsbürger im Land denken?"
Lyndon B. Johnson hatte verstanden. Er hatte erkannt, daß seine Politik der Eskalation in der Vietnam-
frage nicht mehr mehrheitsfähig war. Er zog die Konsequenz. Am 31. März 1968, zwei Monate nach dem Beginn der Tet-Offensive, hielt er eine Fernseh- und Hörfunkansprache an sein Volk. Hierin gab er bekannt, daß er auf eine erneute Kandidatur für das Präsidentenamt verzichte, die von den Militärs gewünschte Eskalation in Form einer Entsendung von über 200.000 zusätzlichen GIs nach Südvietnam ablehne und eine Deeskalation in Form eines Verzichtes auf die Bombardierung Nordvietnams nördlich des 19. Breitengrades vornehme.
Damit war das Engagement des US-Militärs in Vietnam noch nicht beendet, doch war der Höhepunkt überschritten und das Ziel nun nicht mehr der Sieg, sondern ein Rückzug mit wenig Gesichtsverlust und vielen Gegenleistungen des Gegners.
Insofern war die Tet-Offensive politisch ein entscheidender Erfolg.
D. Beutler |
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