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Putin am Scheideweg

 
     
 
Man stelle sich vor, Daimler-Chef Schremp oder Siemens-Chef von Pierer würden plötzlich in ihrem Büro festgenommen, in ein Auto mit Gittern gezerrt und nach Berlin-Moabit verfrachtet, wo sie tagelang in Untersuchungshaft schmachten, ohne sich wirksam wehren zu können. Der Zweifel am Rechtsstaat Deutschland würde zur Gewißheit, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

Ähnliches passiert in Rußland, und Europa zuckt mit den Schultern. Vor allem deutsche Wirtschaft
sführer meinen äußern zu müssen, diese Vorgänge beeinträchtigten nicht die guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Natürlich hüllt sich auch Berlin in ängstliches Schweigen: Nur ja nichts sagen, was die Kreise im und mit dem Kreml stören könnte. Rechtsstaat? Menschenrechte? Alles von gestern, heute zählt die pure Macht, und die liegt in der Hand Putins. Gegen ihn kann man keine Geschäfte machen, Geschäfte sichern Arbeitsplätze und die wiederum die eigene Macht. Eine Hand wäscht die andere, was macht es schon, wenn an einer das Blut tschetschenischer Zivilisten klebt und die andere schlaff und willig überall da herumgereicht wird, wo es etwas zu holen gibt?

Der Mächtige tut, was er will, und der Schwache das, was er muß. So heißt es schon bei dem bedeutendsten Geschichtsschreiber der Antike, bei Thukydides. Wenige Wochen vor der Parlamentswahl und ein paar Monate vor der Präsidentenwahl in Rußland zeigt Putin, was er will. Er will keine nennenswerte Opposition, er will seine alte KGB-Seilschaft im Kreml installieren, er will den Zugriff auf die großen, weltweit operierenden Unternehmen, vor allem im Energiebereich, er will Ruhe an der Peripherie des Reiches, und sei es eine Friedhofsruhe. Und er, der Meister asiatischer Kampftaktiken, will alle niederwerfen, die ihm seine unumschränkte Macht streitig machen wollen.

Aber vielleicht überhebt er sich. Chodorkowski, der Milliardär, den er vom Chefsessel des Weltunternehmens Yukos auf die Pritsche in der "Matrosenstille", dem Untersuchungsgefängnis in Moskau, setzen ließ, wehrt sich, indem er vom Vorstand des Unternehmens zurücktritt, aber an der Spitze der Stiftung "Offenes Rußland" bleibt. Diese Stiftung verfolgt demokratische Ziele. Offenheit, Information, Transparenz - das sind Markenzeichen einer modernen, weltzugewandten Gesellschaft. Rußland war zaghaft auf dem Weg dorthin. Putin wirft es zurück in Zeiten zwielichtiger Geheimdienstmächte.

Daran ändert auch nichts sein höflich-vermittelndes Auftreten im Vatikan. Der großen moralischen Autorität unserer Tage, Papst Johannes Paul II., die Hand zu reichen ist kein Ausweis für Rechtsstaatlichkeit. Eher schon ein Appell, die Achtung der Menschenrechte auch wirklich ernst zu nehmen. Wenn er das nicht tut, wird aus der Ära Putin nur eine Episode mehr in der Leidensgeschichte Rußlands. Und die in Berlin Regierenden können sagen: Wir sind dabei gewesen.
 
     
     
 
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