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Im Jammertal der Beliebigkeit

 
     
 
Im Dezember 1898 verfielen Redakteure der Berliner Illustrirten Zeitung auf die Idee, ihren Lesern 27 Fragen mit der Bitte zu stellen, sie zu beantworten. Sie sollten der Redaktion mitteilen, wie sie das vergangene Jahrhundert beurteilten und wen sie für die größten Deutschen innerhalb der vorgegebenen Berufe hielten.

Mehr als 6.000 Leser beiderlei Geschlechts, aller Berufe und Altersgruppen ab 16 beteiligten sich an der "Bilanz des Jahrhunderts", wie die Illustrirte das Projekt nannte. Da es zu der Zeit noch keine Computer gab, waren die Redakteure darauf angewiesen, alle in der Berliner Charlottenstraße 9, dem Hauptsitz
der Illustrirten, eingehenden Antworten zu lesen, zu registrieren und in die vorgegebenen Sparten einzuordnen, was Wochen dauerte. Erst am 6. Februar 1899 konnte die Zeitung die Antworten auf die ersten acht Fragen veröffentlichen. Die weiteren Ergebnisse erschienen am 5. und am 12. März.

Nicht nur die präzisen Fragen offenbaren den Abstand zum Geist des 20. Jahrhunderts. Die Leser-Antworten tun es auch, was in vieler Hinsicht mehr als nur betroffen machen muß. Unübersehbar ist, daß das Verhältnis der Bevölkerung des 20. Jahrhunderts zur Geschichte, Kultur und Wissenschaft in beängstigender Weise von ihrer Beziehung zur rein technischen Entwicklung abweicht. Was die Deutschen des 19. Jahrhunderts interessierte, erregte und was sie für wissenswert hielten, erscheint der derzeitigen Generation weithin als Ballast ohne Wert, was nicht nur bestimmte Berufs- und Bildungsschichten betrifft. Nur zwei Beispiele: Wer erinnert sich nicht an den vom Fernsehen als "Star" gepriesenen Stimmenimitator Gerhard Schröders, der - obwohl Student der Germanistik - auf die Frage nach dem letzten deutschen Kaiser antwortete, daß es seines Wissens Otto von Bismarck gewesen sei.

Und der 1947 geborene evangelische Pfarrer, Filmemacher, Autor und TV- und Radiomoderator Jürgen Fliege behauptete in einer seiner Sendungen, in der er die 90jährige Witwe Oskar Schindlers interviewte und vorstellte, daß Deutschland immer politische Probleme mit dem Osten (Rußland) gehabt habe. Jeder auch nur einigermaßen Geschichtskundige weiß, daß dies eine Verfälschung der Geschichte ist. Probleme hatte Deutschland immer nur mit den Westmächten, mit Rußland hingegen - neben der Zeit des Ersten Weltkrieges - lediglich seit 1941.

Doch zurück zur "Volksbefragung" von 1898. Auf die erste Frage, der Frage nach einem "Beinamen" für das 19. Jahrhundert, antworteten mehr als die Hälfte der Leser mit: "Das Jahrhundert der Erfindungen" (3.200 Stimmen). Das "Jahrhundert des Dampfes" und "Das Jahrhundert der Elektrizität" folgten im Abstand, jedoch weit vor dem "alkoholischen Jahrhundert", dem "Jahrhundert des Kapitalismus", der "politischen Reaktion", der "Schnellebigkeit", der "Nationalitätenabsonderung", dem "Jahrhundert des Goldenen Kalbes" und dem "Jahrhundert Bismarcks".

Die Fragen Nr. 2 bis 13 bezogen sich auf die Suche nach den Persönlichkeiten, die als Exponenten ihrer Berufe oder Tätigkeiten das Jahrhundert maßgeblich beeinflußt hätten. Das Ergebnis: Als herausragende Zeitgenossen, die "der Mensch- heit den größten Dienst" erwiesen hätten, galten der Bakteriologe Robert Koch (530), der Physiker Wilhelm Röntgen (400), Kaiser Wilhelm I. und Bismarck (je 300). Als "Bedeutendster Mann des Jahrhunderts" (3. Frage) erschien Otto von Bismarck (4.800), gefolgt von Wilhelm I. (700), Freiherr vom Stein (500) und in großem Abstand Goethe, Ferdinand Lassalle, Wilhelm II., Karl Marx, Röntgen, der Flügeladjutant Wilhelm II., Helmut Graf von Moltke, der Historiker und Politiker Hans Delbrück und Heinrich Heine.

Als "größter Dichter" wurden (4. Frage) Goethe (4.400), Heine, Schiller - und "mehrfach" auch Gerhart Hauptmann genannt. Die ersten drei Plätze bei der Frage 5 nach dem "größten Denker" des Säkulums teilten sich Moltke (1.200), Kant (1.000) und Schopenhauer (700). Größter Maler (Frage 6) war für die weitaus meisten Illustrirten-Leser Adolph von Menzel (2.400), dem Arnold Böcklin (1.100) und Wilhelm von Kaulbach (1.000) mit Abstand folgten. Als größter Bildhauer (Frage 7) wurde mit 2.500 Stimmen Reinhold Begas vor dem Hauptmeister des Berliner Klassizismus, Christian Daniel Rauch, mit 1.900 Stimmen nominiert. Mit überwältigender Mehrheit "siegte" Richard Wagner mit 4.200 Stimmen bei der Frage 8 nach dem "größten Musiker" vor Ludwig van Beethoven (1.300). Zum "größten Staatsmann des Jahrhunderts" (Frage 9) wurde "nahezu einstimmig" Otto von Bismarck auserkoren, während Freiherr vom Stein nur "ein Dutzend Stimmen" erhielt.

Die weiteren Fragen betrafen nahezu ausnahmslos Kriterien, die der breiten Öffentlichkeit seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt auch infolge des erschreckend zunehmenden Desinteresses für Geschichte, der Wissenschaftsdisziplin, die dem Menschen sagt, woher er kommt, wo er steht und wohin er sich bewegt, kaum Anlaß zu engagierten Debatten bieten.

Bereits die unübersehbaren Mehrfachnennungen beispielsweise Bismarcks, Goethes, Röntgens, des Freiherrn vom Stein, Heines, Schillers und anderer Gipfelgestalten des 19. Jahrhunderts innerhalb der verschiedenen Fragen zwingt dazu, die ZDF-Sendefolge "Deutschlands Beste" (oder "Die besten Deutschen") als absolut untaugliches, dilettantisches, konstruiertes und unbestreitbar wirklichkeitsfremdes Unterfangen zu bezeichnen. Ohne eine differenzierte Aufteilung in Berufs- und Tätigkeitsgruppen ist es unmöglich, Urteilskriterien für Wertungen zu finden, die zumindest einigermaßen verläßliche Urteile erlauben. Wie kann jemand, um hier lediglich bei den ausgefilterten letzten zehn Kandidaten zu bleiben, etwa Willy Brandt mit Einstein, Luther oder Bach vergleichen und erklären, wer von ihnen der unbestreitbar "Beste" sei? Oder: Wo gibt es - für derartige Beurteilungen unerläßlich - Gemeinsamkeiten bei Adenauer, Luther, Marx, Einstein und Bach?

Schon die Ergebnisse der veröffentlichten ersten 100 Nominierungen hätten die "Fernsehmacher", denen die Befragungen von 1898 offensichtlich nicht bekannt waren, hinsichtlich der "Wahl"-Vorgaben zu Konsequenzen veranlassen müssen. Erschienen unter den ersten 100 "besten Deutschen" doch Namen, deren Träger unter keinen Umständen auch nur entfernt mit dem vorgegebenen Anspruch in Verbindung gebracht werden konnten. Da fanden sich neben dem 18jährigen Klamottenkomiker Daniel Küblböck (Platz 16) beispielsweise nicht nur sich selbst stereotyp als "bedeutende Zeitgenossen" präsentierende Fernsehmoderatoren, von Ghostwritern stilisierte Sportler, ein "Pop-Titan", in englischer Sprache verfaßte Songs plärrende "Sänger", einstige Bundespolitiker, aktive Rennfahrer, ein Skispringer, ein Radrennfahrer, eine Eiskunstläuferin sowie tote und lebende Schauspieler.

Am Schluß des drei Monate währenden Unternehmens "Die besten Deutschen" fanden sich unter den letzten zehn Kandidaten - trotz der Bemühungen von durchweg einseitig agierenden Lobbyisten und des Unwesens der sogenannten "Fanclubs", die durch ihre kindischen Aktivitäten Analphabeten zu Geschichte konstituierenden Geistes-akrobaten zu stilisieren versuchen, immerhin drei Namen wieder, die Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls auf den "Besten"-Listen standen: Goethe, Bismarck und Marx. Daß Karl Marx, der Ende des 19. Jahrhunderts - trotz gravierender Abstriche - von einigen Deutschen zu ihren "Besten" gezählt wurde, im Jahre 2003 gar nach Adenauer und Luther auf Platz 3 der "Besten-Liste" erscheint, kann schwerlich als Summe seiner Lebensleistung, ihrer nachhaltigen Dauerwirkung und Weltgeltung definiert werden (die für die Wertung entscheidenden Kriterien, die der Fernsehmoderator "des Spiels", wie er die aufwendige TV-Veranstaltung schließlich ausdrücklich nannte). Marx geriet in die Position ähnlich wie Küblböck und eine Reihe anderer Allerwelts-Zeitgenossen, die auf den Plätzen elf bis 100 landeten, durch organisierte "Hilfstruppen".

In Hamburg und Bremen und in den neuen Bundesländern hatte er so mit massiver PDS-Unterstützung den ersten Platz eingenommen - trotz der Millionen Mordopfer seit 1917 und der gerade erst vor rund einem Dutzend Jahren überwundenen brutalen SED-Diktatur und katastrophalen DDR-Pleite-Politik, deren Verantwortliche ihn als Säulenheiligen verehrten - wie ihre "Genossen" in der jämmerlich zusammengebrochenen Sowjet-union und ihren Satelliten. In allen Flächenstaaten der alten Bundesländer hingegen war er über zehn Prozent nicht hinausgelangt. Daß er dennoch auf der abschließenden "Bestenliste" vor den Geschwistern Scholl (4.), Brandt (5.), Goethe (7.), Gutenberg (8.), Bismarck (9.) und Einstein (10.) erscheint, belegt die bittere Erkenntnis, daß die Deutschen noch immer nicht für sich in Anspruch nehmen können, tatsächlich aus ihrer Geschichte gelernt zu haben.

Alle mit allen verrührt: Gregor Gysi (li.) und der Journalist Wolf v. Lojewski legten sich für Marx und Gutenberg ins Zeug.
 
     
     
 
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