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Hitlers grausamer Krieg im Osten - Aufzeichnungen eines Frontsoldaten" ist auf dem Titelblatt der Folge 34 des Stern zu lesen. Bei dem Blick auf das Inhaltsverzeichnis fällt ein Soldatenfoto auf. Die Unterschrift lautet ",Gefühllos für fremdes Leid - Ein Wehrmachtsoldat schrieb über den Verlust der Menschlichkeit an der Ostfront. Fast sechs Jahrzehnte nach seinem Tod erscheint das erschütternde Dokument als Buch".
Die Rede ist von der im Claassen Verlag erschienenen Publikation "Mir selber seltsam fremd" von Willy Peter Reese. Dieser hatte schon während des Krieges seine Erlebnisse zu einem Text verarbeitet, von den angeschriebenen Verlagen jedoch Absagen erhalten. Als er 1944 als vermißt gemeldet wurde, ging das Manuskript in den Besitz seiner Verwandten über. Von diesen erhielt es der Stern-Mitarbeiter Stefan Schmitz, der zudem auch auf andere Quellen wie Briefe zugriff.
"Mir selber seltsam fremd" ist insoweit ein besonderes Zeitdokument, als es von einem Zeitzeugen direkt während des Geschehens geschrieben worden ist. Reese hat, als er sein "Bekenntnis" schrieb, nichts vom nahen Ende des National sozialismus und auch nichts von Massenvernichtung gewußt. Jedoch ist das Werk nicht so spektakulär und außergewöhnlich, wie es der Herausgeber Schmitz im Vorwort zu suggerieren versucht.
Es haben schon viele über die Schrecken des Krieges geschrieben, das Sterben an der Ostfront wurde auch schon drastischer geschildert. Reese erzählt da durchaus nichts Neues. Zugegeben, der von seinem Vater zur Banklehre gedrängte Schöngeist behandelt intensiv die Gewissensfrage. Angesichts des viehischen Sterbens unter den eigenen Leuten bekennt er, wie "die letzten Werte zerfielen ... Ich war im Untergang und lachte mich aus". Die Erklärung des poetisch veranlagten Zwanzigjährigen für die Verrohung unter den Soldaten und ihr Mitmachen beim Krieg trifft sicherlich für viele Fälle zu: "Ich nahm mein Los wie einen ungeliebten Beruf und ersparte mir so manchen seelischen Kampf."
Reese zeigt durchaus Mitgefühl für die russische Bevölkerung: "Der Bauer in seiner Armut, in Elend, Verkommenheit und trägem Geschehenlassen, der ewige Sklave und Tor: er trug sein stummes, tierisches Leid unter dem Zaren, der Knute der Gutsbesitzer und im Kollektivsystem. ... Er stand auf der Brücke zwischen Asien und Europa, im Zwielicht, im ewigen Karfreitag, und hundert Generationen hatten nur ein Gesicht. Wir sahen seine Not und sein Elend, und unter dem Zwang des Krieges vermehrten wir es noch."
Neben dem Verständnis für das Leid der Zivilbevölkerung verdeutlicht diese Textstelle aber noch etwas, was der Herausgeber Stefan Schmitz völlig übersieht. Reeses "Bekenntnis" ist für die Kunst geschrieben. Er berichtet durchaus nicht realitätsgetreu, wie man den von Schmitz zitierten Briefen des jungen Wehrmachtssoldaten entnehmen kann. Somit ist Reeses Werk "kastriert". Daß er nämlich beispielsweise selber "rumgehurt" hat, wird in dem Manuskript nicht erwähnt, hier schreibt er abgehoben von reiner Liebe und verurteilt seine Kameraden, die mit den einheimischen Frauen Sex fern der wahren Liebe haben.
Auffällig ist auch, daß in dem Manuskript nie von einzelnen Kameraden berichtet wird. Es wird zwar von "wir" gesprochen, aber namentlich wird kein Kamerad näher genannt, wodurch das grausig geschilderte Sterben nur ein anonymes bleibt.
Wer Willy Peter Reeses Buch liest, bekommt schon eine Vorstellung über den Charakter des Autors. Der schmächtige, bebrillte Mann, der in Religion eine 1 hatte und in Sport nur mühselig bestand, war schon von klein an ein Bücherwurm. Er lebte in der Welt der Kunst; und er hatte wenig Spielkameraden. Daß er als Einzelgänger keine engen Beziehungen aufbaute, könnte die Erklärung dafür sein, daß seine Kameraden im Krieg nicht namentlich erwähnt werden. Der Autor war ein Sonderling, was Schmitz in seinen Anmerkungen jedoch nicht anführt, letztendlich für die Beurteilung des Werkes aber wichtig ist.
Willy Peter Reeses angeblicher Kriegsbericht ist ein traumwandlerisch anmutendes Kunstwerk, das den Krieg zum Gegenstand hat, in dem Poesie, Philosophie sowie die Psyche des Autors jedoch die Hauptrolle spielen.
Fritz Hegelmann
Willy Peter Reese: "Mir selber seltsam fremd", Claassen, München 2003, zahlr. Fotos, geb., 283 Seiten, 21 Euro |
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