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Angriff auf das Selbstverständnis

 
     
 
Optisch wirkt die christdemokratische Familienministerin Ursula von der Leyen ziemlich bieder. Und auch ihr Auftreten hat eher etwas Sanftes, Zurückhaltendes, doch diese Frau wird für den rechten Flügel der Union langsam zu einem schwer verdaulichen Brocken. Mit der Forderung nach Ausbau von Betreuungsplätzen für Kleinkinder und dem Überdenken des Ehegattensplittings bei Kinderlosen erschütterte sie allein in den letzten Wochen das Selbstverständnis ihrer Partei bis ins Mark.

Besonders beim Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren wagt sich die Mutter von sieben Kindern weit nach vorne. Und auch wenn sie noch keinen Finanzierungsplan hat, so tritt sie damit an die Öffentlichkeit. Offenbar ist das Finanzierungsproblem das kleinere Hindernis, im Vergleich zu dem die sie in den Köpfen ihrer Parteifreunde zu überwinden hat. "Neue Wege sind nie einfach. Man fängt immer mit wenigen Mitstreitern an", so die Widerspenstige.

So kam dann auch wie erwartet die Kritik aus den eigenen Reihen. Der Niedersächsin wurde vorgeworfen, daß sie offenbar die "DDR auferstehen lassen" wolle, wo Kinder schon kurz nach der Geburt in Fremdbetreuung gegeben wurden. Auch warf man von der Leyen vor, daß sie sich nicht um das Wohl des Kindes sorge, denn nichts und niemand könne besser für ein Kind sorgen als die eigene Mutter.

Grundsätzlich mag das stimmen, doch Ursula von der Leyen nennt Ausnahmen. "Wir wissen, daß jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund
hat. Und am Anfang der Bildungskarriere entscheidet sich, ob diese Kinder in den nächsten Jahrzehnten fähig sind, unser Land wettbewerbsfähig zu halten." Sprich: Diese Kinder lernen zu Hause nicht das, was sie für ihr Leben brauchen. Mit der deutschen Sprache, deutschen Sitten und Gebräuchen werden viele von ihnen erstmals bei der Einschulung konfrontiert. Chancengleichheit gegenüber ihren deutschen Klassenkameraden ist dann schon von Beginn an nicht gegeben.

Und - was Frau von der Leyen auch nicht offen ausspricht - viele Kinder aus sozial schwachen Familien weisen ebenfalls zahlreiche Defizite auf. Zwar beherrschen sie mehr oder minder die deutsche Sprache, aber viele Fertigkeiten und soziale Umgangsformen sind ihnen fremd. Kinder, deren Eltern ihnen keinen geordneten Tagesablauf vorleben, ihnen nicht regelmäßig gesunde Mahlzeiten vorsetzen, keine saubere Kleidung hinlegen und Menschlichkeit vorleben, gibt es immer mehr in Deutschland. Dabei sind es die unteren Schichten, die noch mehrere Kinder bekommen.

Gegen diese Mißstände will die Ministerin anarbeiten. Bei 750000 Krippenplätzen wären etwa 35 Prozent der Zwei- bis Dreijährigen untergebracht. Dies würde, so hofft die CDU-Politikerin, erstens gut ausgebildeten, berufstätigen Frauen die Entscheidung für ein Kind erleichtern, da diese dann ihr Leben wegen des Nachwuchses nicht völlig verändern müßten, weiter Geld verdienen und ihre Karrierepläne ohne lange Pause weiter verfolgen könnten. Zweitens gebe es dann die Möglichkeit, Kinder aus sozial schwachen Familien oder jene mit Migrationshintergrund früher an die Gesellschaft heranzuführen, denn die Nähe zur Mutter ist für diese Kleinen nicht unbedingt integrationsfördernd.

Letzteres wird allerdings nicht offen ausgesprochen, würde es doch nicht nur die Union dazu zwingen, bestimmte Weltvorstellungen über den Haufen zu werfen. Familienidylle, wie sie sich auch die SPD wünscht, ist keineswegs alltäglich in deutschen Haushalten.

Dies ist zwar eine traurige, aber wahre Erkenntnis, die sogar schon vor einigen Monaten fast ausgesprochen wurde, als die Diskussion über das wachsende Prekariat, die Unterschicht, in Deutschland vom SPD-Vorsitzenden Kurt Beck thematisiert wurde.

Doch Angst vor der eigenen Courage und starker Gegenwind erstickten eine nötige Debatte im Keim.

Möglicherweise weiß von der Leyen, was sie auslösen würde, wenn sie alle ihre Gründe für den Ausbau der Kleinkindbetreuung ungeschminkt kundtun würde, und wählt deswegen ihren eleganteren Weg, auch wenn sie mißverstanden wird.

"Im Prinzip vertritt Frau von der Leyen jetzt eine SPD-Position", meinte Monika Müller, Familienexpertin der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik, im Rahmen der Diskussion. Genau dies ist auch der Grund, warum auch die SPD sich bei der Unterstützung der Familienministerin bedeckt hält: Von der Leyen raubt dem Koalitionspartner eine wesentliche Forderung seines Wahlprogramms für die nächste Bundestagswahl.

Hinzu kommt, daß die Finanzexperten aus den eigenen Reihen darauf hinweisen, daß die Umsetzung der Pläne jährlich drei Milliarden Euro kosten würde. Geld, was eigentlich Länder und Kommunen zahlen müßten, doch wenn der Bund derartige Pläne hat, müßte er sich auch beteiligen, doch das darf er gar nicht: Die Föderalismusreform sieht keine direkten Finanzzuflüsse vom Bund an die Länder vor. Eine Grundgesetzänderung müßte her und die wiederum bedarf einer Zweidrittelmehrheit.

Ursula von der Leyen sieht dies nicht als Hinderungsgrund, schließlich hat sie von der Opposition nur Lob für ihre Vorschläge erhalten. Die SPD müßte theoretisch auch geschlossen dahinterstehen, denn schließlich war es ursprünglich ihre Forderung.

Und die Union? Die hadert noch mit sich und ihrem Familienbild. Doch auch hier werden Stimmen laut, sich ein Herz zu nehmen und den Sachargumenten zu folgen. Zumal Deutschland bekanntlich zu wenig Nachwuchs hat.

Die Gesellschaft kann es sich kaum leisten, ganze Teile einer Generation außen vor zu lassen. Daß dem aber schon seit Jahrzehnten so ist, belegen neben der internationalen Pisa-Tests und OECD-Studien auch Erfahrungen des Alltagsleben.

Foto: Alle Ressourcen nutzen: Ursula von der Leyen
 
     
     
 
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