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Sechzig Jahre Hessen - unser Bundesland feiert Geburtstag" lautet der Titel eines Schülerwettbewerbs, den der Hessische Landtag in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung dieses und letztes Jahr durchgeführt hat. Mitte letzten Monats verliehen Landtagsvizepräsident Lothar Quanz und der Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, Dr. Bernd Heidenreich, im Musiksaal des Hessischen Landtags in Wiesbaden die Preise für die eingereichten Arbeiten. Umrahmt wurde die Preisverleihung durch eine Lesung der Jugendbuchautorin Annelies Schwarz. Der Landtagsvizepräsident war vor allem über die Vielfalt erstaunt, mit der sich die Wettbewerbsteilnehmer den Fragestellungen genähert hatte. Schriftliche Arbeiten, DVD, Spiele, Fragebögen und Plakate waren nur einige der verwendeten Medien.
Den ersten Preis erhielten die Schüler des Leistungskurse s Politik und Wirtschaft (PW) der Wilhelm-von-Oranien-Schule aus Dillenburg für ihre DVD mit dem Titel "Flucht, Vertreibung und Neuanfang - Der Weg der Diakonissen vom Krankenhaus der Barmherzigkeit in Königsberg / Ostdeutschland auf den Altenberg bei Wetzlar". Dieser Beitrag habe ihn am meisten beeindruckt, lobte der Landeszentralendirektor Heidenreich, der die Preisverleihung vornahm.
Nach vorausgegangenen Recherchen über das Schicksal der Königsberger Diakonissen ist der ausgezeichnete 20minütige Dokumentarfilm von den 17 Oberstufenschülern Christopher Bahl, Radmilla Ann Davies, Florian Alexander Ernst, Thorben Geil, Johannes Haus, Lena Hermann, Christian Hofheinz, Jan Mattis Kuhn, Tobias Offenhaus, Christopher Jonas Orth, Nils Pfau, Andreas Schenk, Julian Schlemper, Elisa Marie Stern, Anneke Walter, Andreas Zimmer und Dennis Zimmermann unter der Leitung von Christopher Bahl und Lena Hermann in der Zeit vom 5. bis 12. April dieses Jahres auf dem Altenberg, in Wetzlar und Berlin gedreht worden. Es ging den Jugendlichen darum, in einer Reportage exemplarisch das Thema Flucht, Vertreibung und Integration in Hessen zu verdeutlichen und neue Wege zur Verständigung am Beispiel des Schicksals der Diakonissen des Krankenhauses der Barmherzigkeit in Königsberg aufzuzeigen. Dabei wurden sie von den Diakonissen mit Rat und Tat unterstützt, vor allem von Oberschwester i. R. Hannelore Skorzinski und Schwester Johanna Dudek, und auch Pfarrer i. R. Dieter Nebeling war eine große Hilfe.
Sehr beeindruckend war für die Jugendlichen, daß diese Schwestern während des Krieges und nach der Eroberung Königsbergs selbst unter Lebensgefahr die Kranken pflegten und bis zu ihrer Ausweisung im Jahre 1948 dort blieben. Danach sammelten sie sich in Berlin-Nikolassee neu, bis sie schließlich auf dem Altenberg bei Wetzlar eine neue Bleibe finden sollten. Der Film dokumentiert in zahlreichen Interviews die Begegnung mit den letzten Diakonissen, die in Ostdeutschland ihren Dienst taten, die Hochachtung vor ihrer Arbeit und die vielfältigen guten Beziehungen zum jetzigen Gebietskrankenhaus in Königsberg, wo das Engagement dieser Schwestern schon seit Beginn der 90er Jahre auch öffentlich gewürdigt wird.
Im Mai dieses Jahres zeigten die Schüler aus Dillenburg im Hörsaal des Königsberger Gebietskrankenhauses den dortigen Schwestern ihren Film, der simultan von Dr. Elena Gordejewa übersetzt wurde. Die Reaktion war überwältigend. Die kommissarische Leiterin des Gebietskrankenhauses, Oberschwester Natascha Androsowa, bedankte sich vielmals im Namen aller Schwestern, die aufmerksam der Vorführung gefolgt waren, und erklärte, den Film ins Russische zu übersetzen, damit alle Schwestern diesen Film sehen könnten. Im Anschluß wurde der Leiterin eine Reproduktion des Bildes "Gesicht" des russischen Malers Alexej von Jawlensky, der in Wiesbaden begraben liegt, zur Erinnerung an den Besuch überreicht und ein Strauß mit weißen Lilien für die in der Kriegs- und Nachkriegszeit umgekommenen Diakonissen am Gedenkstein im Innenhof des Krankenhauses niedergelegt, der auf Anregung des ehemaligen Leiters Prof. Konstantin Poljakow aufgestellt worden war.
Dieser Film war der Auftakt für eine gemeinsame Studienwoche mit russischen Germanistikstudentinnen, die an der Kant-Universität bei Prof. Wladimir Gilmanow studieren. Mit ihnen wurden eine Fülle von Veranstaltungen gemeinsam durchgeführt. So wurde im deutsch-russischen Haus der Film "Sophie Scholl" über den Widerstand im Dritten Reich gezeigt, das Gemeindehaus des ehemaligen Königsberger Pfarrers Hugo Linck, in dem jetzt das Königsberger Sinfonieorchester probt, besucht, eine Fahrt nach Pillau zur internationalen Kriegsgräberstätte, wo über 8700 Kriegsopfer ruhen, darunter auch 204 Opfer des Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff", unternommen, eine unvergeßliche Fahrt mit dem Boot nach Gilge und über das Kurische Haff durchgeführt sowie lebhaft mit dem deutschen Konsul in Königsberg Joachim Trafkowski diskutiert.
Die gemeinsame Arbeit war so ermutigend, daß Studiendirektor Eckhard Scheld von der Wilhelm-von-Oranien-Schule und Prof. Wladimir Gilmanow sich gemeinsam dafür einsetzen, daß in der Zeit vom 15. bis 23. September dieses Jahres eine Studienwoche der russischen Studentinnen in der Königsberger Diakonie stattfinden kann, wo sie Gelegenheit haben werden, mit den Diakonissen auf dem Altenberg zu sprechen, um eine russische Synchronisation des Filmes herzustellen und in Kooperation mit den deutschen Schülern ihr Medienprojekt "Schauplätze der Geschichte in Königsberg / Kaliningrad" allen Interessierten zeigen zu können. E. S.
Nähere Informationen über den zweiten Teil des Projekts, die Studienwoche mit den russischen Studentinnen, für den noch Spender gesucht werden, erteilt gerne Eckhard Scheld, Wilhelm-von-Oranien-Schule, Jahnstraße 1, 35683 Dillenburg, Telefon (0 27 71) 89 92-0, Fax (0 27 71) 89 92-18, E-Mail: e.scheld@wvo-dill.de .
Gruppenbild vor dem Grabmal Immanuel Kants am Königsberger Dom Scheld
Stimmen zum deutsch-russischen Schüler- und Studentenaustausch
"Nachdem im November vergangenen Jahres Professor Wladimir Gilmanow von der Kant-Universität in Kaliningrad einen Vortrag über E.T.A. Hoffmanns ,Der Sandmann hielt, kamen die Schüler des Leistungskurses PW auf die Idee, als Ziel ihrer Kursfahrt die Stadt Kaliningrad zu wählen, woraufhin die Gruppe intensivste Anstrengungen unternahm, um eine solche eher ungewöhnliche Abschlußfahrt zu verwirklichen. Außergewöhnlich war dabei der starke Zusammenhalt und Kampfgeist der Gruppe." Andreas Schenk
"Das faszinierendste war die Kurische Nehrung. Sie ist ein Landstreifen von dem 52 Kilometer zu Litauen und 46 Kilometer zu Rußland gehören. Die Nehrung trennt das Kurische Haff von der Ostsee und gehört zum Weltnaturerbe. Die Nehrung besteht aus riesigen Wanderdünen und man kommt sich wie inmitten einer Wüste vor. Man fühlt sich wie auf einer Insel, denn auf der einen Seite ist das Haff und auf der anderen die Ostsee. Außerdem befindet sich in Rossitten die älteste Vogelwarte der Welt. Sie dient zum Schutz und zur Überwachung des Wildvogelbestandes. Diese Landschaft zu erkunden war sehr interessant, da dieser Landstreifen ein Naturwunder ist. Auch die riesigen Fanganlagen der Vogelwarte haben mich beeindruckt. Abenteuerlich war auch die Fahrt zur Kurischen Nehrung. Mit einem kleinen Schiff haben wir das Kurische Haff in drei Stunden überquert, so daß fast Seefahrer-,Feeling aufkommen konnte."
Florian Ernst
"Nach der Ankunft in Kaliningrad (Königsberg), der Heimatstadt Immanuel Kants, stellte man fest, daß es in der Stadt außer einigen restaurierten Gebäuden und Kirchen fast nichts mehr gibt, was noch an die alten ostdeutschen Zeiten erinnert. Stattdessen wurden überall Vorbereitungen zum 9. Mai getroffen, dem Tag, als die Sowjetunion über Nazi-Deutschland siegte. In der Innenstadt wurden riesige Plakate für die Siegesparaden angebracht. Dies zeigt, wie man in Rußland nach 61 Jahren mit der Geschichte des Krieges umgeht. Das Kennenlernen der russischen Sichtweise und deren Mentalität ist auch einer der Gründe, weshalb man nach Rußland reisen sollte."
Andreas Zimmer
"Meine Betrachtungsweise gegenüber Rußland hat sich sehr gewandelt. Während ich am Anfang noch starke Bedenken gegen dieses Projekt hatte, mußte ich einfach Kaliningrad in mein Herz schließen. Eine Stadt mit solchen Menschen kann man nicht mit einer einzigen in Deutschland vergleichen, und wenn ich den russischen Studentinnen glauben schenken darf, dann kann man auch keine russische zum Vergleich heranziehen. Die herzliche Begrüßung Gilmanows und seiner Studentinnen sowie die Tatsache, daß von Anfang an ,alles seinen richtigen Lauf nahm, tat ihr übriges hinzu." Christopher Bahl
"Das Austauschprogramm, das wir mit den russischen Studentinnen durchführten, fand ich sehr gut. Wir haben gleichaltrige Menschen aus einer anderen ,Welt kennengelernt. Die Studentinnen waren uns bei der Orientierung in einer völlig fremden Sprache und Stadt sehr hilfreich. Außerdem war es interessant zu erfahren, wie sie leben und welche Interessen sie haben. Ich freue mich, daß auch sie die Gelegenheit haben werden, im September nach Deutschland zu kommen, und wir sie wiedersehen können und somit tatsächlich ,Völkerverständigung stattfindet."
Elisa Stern
"Unsere Zusammenarbeit war für uns ein großes Vergnügen. Wir sind davon überzeugt, daß dieses Projekt weitergemacht werden muß. Mit der Hilfe unseres Professors Wladimir Gilmanow werden wir uns mit dem Projekt ,Schauplätze der Geschichte in Königsberg / Kaliningrad auseinandersetzen. Wir freuen uns, daß es eine Möglichkeit gibt, im September nach Deutschland zu kommen! Wir möchten uns bei denen bedanken, die sich dafür eingesetzt und uns diese Chance gegeben haben! Vielen Dank! Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit euch!"
Viktoria Astapenkova, Julia Iwanowa und Daria Makaritsch
",Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen - Diese Worte müßten vielleicht das Motto des gemeinsamen Treffens der Schülerinnen und Schüler aus Dillenburg und der Studentinnen aus Kaliningrad sein. Wir waren wie Vertreter zweier Völker (Russen und Deutsche), die sich zu einem friedensstiftenden Ziel versammelten. Wir erinnerten an die Probleme der Vergangenheit und haben gleichzeitig verstanden, daß, wenn wir das vergessen, alles, was schlimm war, zurückkehren kann. Für uns war die Ankunft der deutschen Delegation ein sehr großes Ereignis. Heutzutage gibt es immer weniger Menschen, die sich mit der Geschichte des Kaliningrader Gebietes beschäftigen. Und die Jungen und Mädchen aus Deutschland zeigten sehr tiefe Erkenntnisse, nicht nur in Bezug auf die Geschichte von Königsberg, sondern auch Verständnis für das moderne Leben der Stadt. Der Hauptpunkt ihres Aufenthaltes war es, den Film über die Königsberger Diakonie zu zeigen. Alle haben bemerkt, daß in dem Film sehr viel Mühe und Liebe steckt. Die Diakonissen haben eine sehr tragische Geschichte. Sie haben Flucht und Vertreibung mitgemacht und einen Neuanfang erlebt. Dieser Fall ist das klarste Zeugnis über die Fehler und Irrtümer der Menschen in dieser Zeit."
Nastja Frolowa |
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