|
Von Plato zur Nato", glauben viele Europäer und Amerikaner, stürme die Freiheit des Menschengeschlechts ständig vorwärts. Der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash von der Universität Oxford sieht weltweit das Zeitalter der Freiheit anbrechen, sofern die richtige Politik gemacht werde. Hierzu sei das Verhältnis zwischen den USA und Europa neu zu justieren.
Garton Ash betrachtet das heutige Europa und geht der Frage nach, welche Gestalt es nach dem Ende des Kalten Krieg s annehmen soll? Die besten, weil historisch fundierten Partien dieses Buches betreffen Großbritannien und Frankreich. Deutschland und das übrige Europa erörtert Garton Ash eher beiläufig.
Die Außenpolitik Tony Blairs schwanke in der Tradition Churchills zwischen Europa und Amerika. Im Zweifelsfall würden die meisten Briten eine atlantische Kursrichtung bevorzugen. Hingegen vertrete Frankreich die "euro-gaullistische" Gegenposition. Paris hoffe, gestützt auf Deutschland, das kontinentale Europa, unabhängig von Washington, zu dominieren. Heute jedoch, nach der Osterweiterung der EU, sei dieses Konzept der 50er und 60er Jahre veraltet.
Die meisten europäischen Länder würden Europa als "Nicht-Amerika" verstehen; es entspreche europäischer Tradition, das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit zu betonen. In den USA obwalteten sozialdarwinistische Prinzipien. Europa beherberge einen "Dschungel" unterschiedlicher Interessen und Auffassungen. Dazu gehörten auch widersprüchliche Einschätzungen der USA. Manche europäische Länder, darunter Deutschland, wollten sich von den USA emanzipieren, während andere Staaten Bushs Irakkrieg unterstützten.
Außerdem entdeckt Garton Ash verschiedene politische Strömungen in den USA. Generell seien die Amerikaner zwar religiöser, unsozialer und individualistischer orientiert als viele Europäer, dennoch hegten manche Amerikaner auch europäische Überzeugungen und kritisierten weltpolitische Engagements ihres Landes. In den europäisch-amerikanischen Beziehungen gäbe es gleichermaßen Anziehung und Abstoßung.
Jeder Tendenz stehen dem Autor zufolge Antikräfte gegenüber. Diese - gewiß lobenswerte - differenzierte Betrachtung legt allerdings die Frage nahe, welche Konsequenzen daraus resultieren. Genau hier liegt die zentrale Schwäche des Buches. Garton Ash analysiert viel zu wenig. Wie soll eine demokratisch regierte EU konkret aussehen, wenn deren Mitglieder höchst gegensätzliche Meinungen und Interessen vertreten? Garton Ash verschweigt diese unangenehme Frage. Europa stecke seit 2.500 Jahren in der "Planungsphase", sagt der französische Historiker Jaques Le Goff, und wenig spricht dafür, daß sich diese Lage grundsätzlich ändert. Im verborgenen erkennt Garton Ash sehr wohl die Tücken europäischer Politik. Er sieht die "Gefahr, daß die Institutionen der Europäischen Union allmählich zur Bedeutungslosigkeit absinken wie im Fall des Heiligen Römischen Reiches".
Endlose Spekulationen darüber, welche Konturen das Verhältnis zwischen Europa und den USA künftig gewinnt, erinnern an Kaffeesatzleserei. Garton Ash bevorzugt ein Gleichgewicht zwischen "Gaullisten" und "Atlantikern".
Zu Recht betont Garton Ash, daß der Terror politisch und wirtschaftlich, aber nicht militärisch zu bekämpfen sei. Fragwürdig allerdings erscheint sein neoliberaler Irrglaube, daß die Reduzierung sozialstaatlicher Ausgaben das Wirtschaftswachstum erhöhe. Sinnvoller wäre es, Wissenschaft und Technik zu fördern.
Die "größte innenpolitische Aufgabe Europas" bestehe darin, daß Immigrantenproblem zu bewältigen. Unlängst hörte Garton Ash an der Nelson-Säule in London "eine Lautsprecherstimme über den ganzen Platz röhren: ‚Allahu akbar! Allah ist groß! Was wohl Nelson davon gehalten hätte?" Garton Ash fordert, die in Europa lebenden Moslems zu integrieren, traut jedoch den eigenen Thesen und Wunschträumen nicht. Für eine erfolgreiche Immigrantenpolitik "könnte es schon zu spät sein". Rolf Helfert
Timothy Garton Ash: "Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise", Carl Hanser Verlag, Wien, 2004, 352 Seiten, 23,50 Euro |
|