|
Ausgerechnet in ihrer Oster- ausgabe hat sich eine der einflußreichsten Zeitungen des deutschsprachigen Raumes in die Rolle der Kassandra begeben. Die sonst eher in Wortwahl und Sprache zurückhaltende Neue Zürcher Zeitung (NZZ) hat auf einer ganzen Zeitungsseite Deutschland und den Deutschen eine düstere Prognose gestellt.
Deutschland, so steht da zu lesen, befinde sich in einem "lamentablen Zustand". Die Diagnose sei düster. Es gehe dem Lande schlecht, und der Glaube an baldige Genesung sei nicht vorhanden. Die viel zu wenigen und viel zu zaghaften "Reförmchen", die bereits im Ansatz steckenblieben, lösten allenfalls Massenproteste aus. Zwar werde die Notwendigkeit von Reformen diagnostiziert, aber niemand wolle daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen. Das "Problembewußtsein" sei zwar vorhanden, aber praktisch geschehe nichts.
Die Bereitschaft zu dringend notwendigen und grundlegenden Veränderungen fehle, weil der "wirtschaftliche Niedergang" so schleichend erfolge, daß man ihn kaum wahrnehme. Das "Heute" sei immer nur unmerklich schlechter als das Gestern. Erst bei einem Vergleich einer längeren Zeitspanne werde deutlich, daß es abwärts gehe. Deutschland beginne, von seinen Reserven zu zehren.
Die Politik leiste kaum "Führungsarbeit". Die SPD werde, sobald sie sich reformorientiert gibt, von ihrer Basis zurückgepfiffen. Dann folgt eine besonders interessante, weil aus dem Rahmen der Political Correctness herausragende Feststellung: Das "Gedränge" der bürgerlichen Parteien in der (politischen) Mitte sei geradezu "fatal". Die NZZ scheut auch nicht davor zurück, einige heilige Kühe furchtlos zu schlachten. Hauptverantwortung für diesen Zustand trage der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen Verdienst um die deutsche Wieder- vereinigung "leicht dazu verleite, seine ordnungspolitischen Fehltritte zu übersehen". Die Schweizer Zeitung, die als Bannerträgerin von Freisinn und Liberalismus gilt, wirft dem Ex-Kanzler vor, es fehle ihm jegliches Verständnis für wirtschaftspolitische Zusammenhänge.
In letzter Zeit, so heißt es in der Neuen Zürcher Zeitung weiter, nehme die Zahl jener zu, die von allem "einfach genug" hätten. "Sie mögen nicht mehr." Unternehmer, Forscher und Erfinder verließen ihr Land - "nicht nur, weil sie die Sonne suchen, und auch nicht nur aus steuerlichen Gründen, wie populistisch suggeriert wird. Sie gehen, weil sie mit ihrem Land, seiner paternalistischen Bevormundung, seiner Angst vor Risiko und Innovation, seinem Mißtrauen gegen Leistungsträger, seinen polizeistaatlichen Schnüffeleien, seinem Neid gegen alles, was sich zu sehr vom Rest abhebt, nichts zu tun haben wollen." Das Blatt spricht von weitverbreitetem Mißtrauen gegen Leistungsträger. Das alles habe "verheerende Folgen". Dieser "Teufelskreis" müsse endlich durchbrochen werden.
Ergänzt wird diese vernichtende Kritik durch einen Zustandsbericht über die Lage in Mitteldeutschland - also der ehemaligen DDR -, wo an die Stelle des "Aufbaus Ost" der "Stillstand Ost" getreten sei, wo die Arbeitslosigkeit bei 18 Prozent verharre und allgemeine Ratlosigkeit herrsche, "weil trotz Hineinpumpens gigantischer Summen in die Wirtschaft so gut wie kein Fortschritt zu erzielen war". Der Osten Deutschlands (also Mitteldeutschland) sei zum "Mezzogiorno" geworden - zu einer Art Süditalien, in dem die Finanzströme spurlos versickern.
Nun könnte man einwenden, dies sei nicht das erste und sicher auch nicht das letzte Lamento über die Zustände jenseits der Elbe. Entscheidend aber ist vielmehr, daß die Neue Zürcher Zeitung - die sonst dem liberalen Establishment zuzurechnen ist, den Finger auf eine oft verschwiegene und verdrängte offene Wunde legt: sie spricht von "polizeistaatlichen Schnüffeleien" und vom Druck, der auf den deutschen Zuständen lastet. Wieweit polizeistaatliche Ausrutscher und die gegenwärtige ökonomische Misere miteinander zusammenhängen und einander gegenseitig bedingen, wäre eine Untersuchung wert. Klar ist auf jeden Fall, daß zwischen dem stickig-lustlosen politischen Klima und den fehlenden wirtschaftlichen Erfolgen und Zukunftsperspektiven Deutschlands eine Brücke existiert. Daß die Neue Zürcher das eher als manche bundesdeutschen Auguren bemerkt hat, sollte nachdenklich stimmen. "Deutschland im Niedergang" - wer hätte sich träumen lassen, daß unter einer solchen Überschrift ein grundlegender Artikel in der Neuen Zürcher (ausgerechnet!) erscheinen würde?
Der Aufschwung deutscher Unternehmen kommt - in (Fern-)Ost: Deutsche Traditionsunternehmen verlagern ihre Produktion ins Ausland oder lassen zuerst dort neue Arbeitsplätze entstehen - hier in einem Werk des Schreibwarenherstellers Staedtler in Thailand. |
|