A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Beuys Mühl und Nitsch - Künstler oder Scharlatane

 
     
 
Lassen Sie mich zuerst einen kleinen Schnack aus meiner Jugendzeit erzählen. In den 50er Jahren, lange vor der Gründung von "konkret", als ich zusammen mit Peter Rühmkorf einen Jazz- und Lyrik-Keller in der Hamburger Poststraße ausbaute, es war ein ehemaliger Luftschutz-Keller, lernten wir zum ersten Mal einen Freund kennen, der gut mit Pinseln und Kleister umgehen konnte und uns beim Tapezieren half. Eigentlich aber sei er Künstler, sagte er uns, aber er malte oder zeichnete gar nichts. Statt dessen machte er Pläne, was für besondere Bilder oder andere Kunstwerke er demnächst schaffen würde, und darüber diskutierte er mit allen Menschen, die er kannte und durch das viele Herumreden und Sabbeln ging fast alle Zeit verloren, die er hatte. Er redete viel vom Existenzialismus. Alle - außer meinem Freund Rühmkorf und mir - sprachen damals über Existenzialismus, ohne auch nur zu ahnen, was das sein könnte, aber alle wollten unbedingt "Exis" sein und um das zu dokumentieren, trugen sie Bärte und schwarze Baskenmützen, und ihr höchster Traum war, einmal per Anhalter oder sonst irgendwie nach Paris zu fahren und dort in einen "Exi-Keller" zu gehen. Wir aber bauten unsern eigenen Keller in Hamburg, den nannten wir "Anarche". Nicht nach Paris, sondern hierher sollten die Leute pilgern und Jazz und Lyrik hören. Rühmkorfs Lyrik. Unser tapezierender "Maler" half uns dabei. Eines Tages aber, als wir ihn wieder einmal wegen seiner "bilderlosen Malerei
" aufgezogen hatten, kriegte er den Rappel. Er breitete Zeitungspapier im ganzen Keller aus und schüttete Farbe auf die Zeitungen. Überall entstanden Kleckse und Flecken, wie sie beim Tapezieren oder beim Anstreichen der Wände auf dem Fußboden entstehen, wenn man nicht aufpaßt, schön rot und gelb und bunt. Dann ließ er das Zeitungspapier trocknen, schnitt es in handliche Stücke und packte die besten seiner so veredelten Zeitungs-Bögen zusammen, hüllte sie in eine dieser bei Künstlern heute noch gebräuchlichen übergroßen Mappen und machte sich auf den Weg nach Seebüll in Schleswig-Holstein. Zu Emil Nolde, der ihn auch bereitwillig empfing. Nach einem aufmerksamen Blick auf die Werke unseres jungen bärtigen Freundes sagte der Maler auf plattdeutsch: "Wat is dat dann?" Darauf war unser Mann mehr als gefaßt, denn über die Kunst reden hatte er ja immer schon lieber gewollt als malen, und er legte sich mächtig ins Zeug, wobei die lange Rede leider nicht bekannt ist. Nur sein Schlußwort über seine vorgelegten Werke ist überliefert: "Das ist Existenzialismus!" Darauf Nolde: "Ne du. Ik will die man seggen, wat dat is. Dat is Schiet, min Jung!" So endete die künstlerische Laufbahn unseres Freundes Günter Suhrbier, der es ein Jahrzehnt später weit hätte bringen können. Der Mann war einfach zu früh geboren, er war seiner Zeit weit voraus, hätte er länger durchgehalten, wäre er heute Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Er hat sich später aus Gründen, die nichts mit der Kunst zu tun hatten, das Leben genommen.

Das mit der "Anarche", in der man auf Bierfässern saß und Cola trank und Jazz und Lyrik hörte, können wir ziemlich genau datieren: es war im Frühjahr 1952.

Zehn Jahre später war die Kunst in Deutschland mächtig vorangekommen. Was unser Maler-Freund, angeregt durch das Tapezieren der Wände, versucht hatte, hieß längst Tachismus, und inzwischen bekleckerte man das Papier nicht mehr von Hand, sondern spritzte man die Farbe schon mit Wasser-Pistolen und später mit Sprühgeräten. Eines Tages im Jahre 1965, da war ich schon Chefredakteur des unabhängigen Linksblatts "konkret", erhielt ich eine Einladung. Draußen auf dem Gelände des Rowohlt-Verlages in Reinbek bei Hamburg sollte ein "Happening" stattfinden, ein ganz ungeheuer einmaliges und bedeutendes Ereignis, ein einmaliges Beispiel von Aktionskunst zur Einführung eines ebenso einmaligen Buches über Happenings. Tatsächlich waren "alle" da, alle Hamburger Intellektuellen und Presseleute und Fotografen waren da und alle standen nun draußen herum, es gab sauren Wein und kleine Häppchen, und dann kamen die Künstler, der Schriftsteller und Lyriker Jürgen Becker und der Künstler Wolf Vostell, die auch das Buch geschrieben hatten, und alle sahen zu, wie Vostell einen riesigen, mehr als zwei Meter hohen und fast ebenso breiten viereckigen Behälter aus Glas (oder war es Kunststoff?) mit Nägeln vollschütteten, die in kleinen Pappkartons bereitstanden. Die Nägel machten dabei ein Geräusch - eben wie Nägel, die in einen Behälter geschüttet werden, und niemand sagte ein Wort. Erstaunlich war der wortlose Bierernst, mit dem die Künstler agierten, es dauerte ja ziemlich lange, ehe das Ding voll war, es gab dazu keine Musik oder Kommentare, sondern nur ehrfürchtiges Raunen und bedeutungsvolles Flüstern des Publikums. Keiner sagte Tüdelkram, was in Hamburg so etwas wie Spinnkram oder Wulst bedeutet, und niemand sprach den erlösenden Satz "Dat is Schiet, min Jung!" Die Hamburger haben Respekt vor allen Gegenständen oder Handlungen, für die gutes Geld bezahlt wird, und das war hier offensichtlich der Fall.

Moderne, experimentelle Kunst und die in ihrem Schatten segelnden Scharlatane hatte es ja lange vor dem Dritten Reich des Kunstbanausen Hitler gegeben. Nahezu alles war eigentlich schon einmal ausprobiert worden. Dann kam der Zweite Weltkrieg und der Zusammenbruch Deutschlands. Und nachdem der erste Schock über den verlorenen Krieg und seine furchtbaren Zerstörungen überwunden war und alle sich an den Wiederaufbau machten und es wieder das erste richtige Geld gab, tauchten nicht nur Kasperle-Spieler, Jongleure, Feuerschlucker und Gaukler wieder auf, sondern auch die ersten modernen Künstler, wirkliche und eingebildete. Es war eine Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten, und diese Zeit wollten sie nutzen, und man ließ sie teilhaben am neuen deutschen Wirtschaftswunder. So tauchten im westlichen Teil Deutschlands, in Österreich und in Westberlin überraschend eine Reihe von jungen Künstlern auf, die man früher eher als mäßig begabte Debütanten angesehen hätte. Vielleicht waren sie ganz begabt gewesen und hatten im Zeichenunterricht eine Eins gekriegt: Jedenfalls handelte es sich um Leute, die den Besuch einer Kunstschule und jede Art von Ausbildung verschmäht hatten, als ihrem Genie nicht gerecht werdend.

So machten sie sich ans Werk. Sie überboten sich gegenseitig in der Verwendung ungewöhnlicher Materialien wie Filz und Margarine und vor allem Kunststoff aller Art, im Benutzen neuartiger Techniken, Farben und anderer Flüssigkeiten, durch ungewöhnliche Sujets und Themen, durch Mischung aller handwerklichen Techniken und schließlich der Kunstgattungen selbst, indem man etwa Musik und Malen und Fotografie mischte, also zum Schnellmalen eines Bildes (4 Sekunden) Flöte spielte oder Lieder sang. Die meist aus der gleichen Generation kommende neue Kunstkritik hielt alles für möglich und - machte es möglich: Die "Werke" oder "Installationen" des so von der Kritik gepriesenen Künstlers werden dann von der Stadt angekauft, er erhält Preise und Einzelausstellungen und schließlich eine Professur.

Was früher in Rembrandts oder Rubens Ateliers als Tolpatschigkeit und Ungeschicklichkeit gegolten hätte, wie das Verschütten oder Klecksen von Farbe auf dem Fußboden, ein verrutschter Pinselstrich, ein verunglückter Kreis, ein mißlungenes Porträt, ein verschmiertes Stilleben, eine falsch gemischte Farbe, eine fehlende oder ins Grobe verzerrte Perspektive - das alles war jetzt Avantgarde oder, wie Joseph Beuys es einmal nannte - "Antikunst", eine neue Idee, ein Betreten von Neuland, über das umfangreiche Erläuterungen in den Feuilletons geschrieben wurden mit immer weniger nachprüfbaren Behauptungen. Die Idee, lediglich einen leeren Rahmen als Bild auszustellen wie in der Berliner Ausstellung des MOM im Jahre 2004, war ein vorläufiger Höhepunkt. Jeder Mensch ein Künstler. Jeder kann.

Ein Meilenstein der Entwicklung war das Happening von Beuys im Jahr 1964 zum Gedenken an den 20. Juli 1944 an der Technischen Hochschule in Aachen, zusammen mit dem ASTA der TH, ein harmloses, aber anregendes Vorspiel der 68er Aktionen. Ein Augenzeuge, der Schriftsteller Joachim Fernau ("Rosen für Apoll") beschreibt die zehnstündige(!) Mammutveranstaltung: "Nahezu tausend Studenten füllten den Hörsaal, als die Veranstaltung begann. Einer der Akteure hielt auf dem Kopf stehend eine Ansprache. Ein Mann mit Gasmaske und blauer Glühbirne auf dem Kopf schleppte keuchend Säcke mit gelbem Farbpulver herbei und entleerte sie auf der Bühne des Hörsaals ..." Später kamen raffiniertere Auflösungen der Konventionen in Mode wie das Treiben eines Schweins über die Leinwand, dessen Schwanz in Farbe getaucht worden war, doch dieses wurde überboten - der Mensch ist das bessere Schwein - durch das Abdrücken einer vorher in Farbe getauchten nackten Mädchenbrust oder eines nackten Hinterns auf Leinwand, provokativ blasphemisch mit dem Schweißtuch der Veronika verglichen. Veronika, der Lenz ist da. Wenn schon blasphemisch, dann richtig. (Weiter nächste Woche)

Foto: Sogenanntes Kunsthappening: Die Joseph-Beuys-Aktion "Manresa" 1966 in der Alten Galerie Schmela
 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Nehrung Kulturerbe

Gururumba

Üb immer Treu und Redlichkeit

 
 
Erhalten:
oder und neiße
oder und neiße
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv