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Das Ende der Bescheidenheit

 
     
 
Sechzig Jahre Kriegsende in Europa. Alle feiern den Sieg der West-Alliierten und der mit ihnen verbündeten Sowjets unter Marschall Stalin. Der Bär ist los in Moskau und Berlin. Mit Rock und Rap, mit Tanz und Glühwein. Alle rufen uns nahezu täglich zur Verständigung und Versöhnung auf. Mit den polnischen Nachbarn vor allem, den Tschechen, den Russen, den jüdischen Mitbürgern und den Völkern in aller Welt. Man kann ganz sicher sein, daß diese Aufrufe auch auf dem Ostdeutschlandtag am 21. Mai wieder zu hören sein werden. Versöhnung mit den Polen, den Tschechen, den Russen.

Sind wir wirklich so unverständig und so unversöhnlich, daß uns unsere Enkelkinder und der Alt-Popper Udo Lindenberg dazu aufrufen müssen? Versöhnung. Aber klar, sagen die Vertriebenen. Wir waren ja die ersten, die 1950 in der Charta der Vertriebenen
den Polen und Tschechen die Hand dargeboten haben zur Versöhnung. Wenn diese wollten. Manche wollten nicht. Auch manche alte Ostdeutschland und Pommern und Schlesier waren damals gegen die Charta. Sie war umstritten. Heute gehört sie zum festen Bestand der Vertriebenen-Geschichte. Doch man muß offen sagen, daß die Versöhnungsbereitschaft der Polen und Tschechen mit den früheren Einwohnern des Landes, das sie in Besitz genommen haben, schon mal größer - und ehrlicher - war. Warum wohl? Das Verhältnis wurde von Jahr zu Jahr schlechter, nachdem sich der Beitritt Polens und Tschechiens zur EU abzeichnete. Angeblich lag das an den Plänen der Vorsitzenden des Bundesverbandes der Vertriebenen, der CDU-Abgeordneten Erika Steinbach, in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten, in dem das Schicksal der 15 Millionen Deutschen, die nach dem Krieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden, registriert, gesammelt, erforscht und für die Nachwelt dokumentiert werden soll. Seitdem dieser Plan quer durch die Parteien (mit Ausnahme der Grünen und der Nachfolger der SED, versteht sich) breite Zustimmung fand und in großen Anzeigen dafür geworben wird, mehren sich die Angriffe aus Warschau und Prag. Doch die Pläne des BdV sind so bescheiden und moderat, daß es naheliegt, nach anderen Motiven dafür zu suchen, daß sich Polen und Tschechien zu einem solchen Sturmlauf gegen die Vertriebenen und ihre Vorsitzende hinreißen ließen, der auch vor schlimmen persönlichen Diffamierungen nicht zurück-schreckte (Frau Steinbach in SS-Uniform als Titelbild).

Je moderater die Töne der deutschen Vertriebenen wurden, desto mehr steigerten sich die wenig versöhnlichen und keineswegs die Verständigung fördernden Haßtiraden, je näher der EU-Beitritt rückte. Vielleicht war das gar nicht so verwunderlich. Es kam einer geschürten Haß- und Angststimmung gegen die Deutschen entgegen. Am Vorabend des EU-Beitritts waren sich die polnischen Hausbesitzer und Bauern nämlich gar nicht mehr so sicher, ob sie die Gebäude, den Grund und Boden, die Milliardenwerte, die ihnen der Staat aus beschlagnahmtem deutschen Privatbesitz übereignet hatte, für alle Ewigkeit würden behalten können. Wie wäre es, wenn eines Tages die Erben der Grundstücke und Häuser sich melden würden? Das Erbrecht an Immobilien verfällt bekanntlich nicht, ganz gleich, ob sie durch mangelhafte Kultivierung der Guts- und Bauernhöfe an Wert verloren oder als Stadtgrundstücke und Wohnhäuser ihren Wert gesteigert haben. Reden müßte man darüber unter EU-Bürgern ja mal können und nicht nur unter Hinweis auf Hitlers Krieg jedes Gespräch verweigern. Verloren ist verloren. Hin ist hin. Scheiß der Hund drauf, sollen die ostdeutschen Bauern sagen, die einen Hof von, sagen wir, 100 Hektar verloren haben, das war Hitlers Krieg. Was aber werden ihre Kinder und Enkel sagen?

Stellen wir uns einen jungen Mann aus Köln-Marienburg oder Hamburg-Blankenese vor oder einen Hoferben aus den schleswig-holsteinischen Marschen, der jetzt (zum ewigen Ärger aller Sozialisten und Likedeeler) ein schönes Grundstück erbt, nach Abzug aller Erbschafts- und Neidsteuern immerhin vielleicht noch 500.000 Euro.

Zu dem käme eines Tages jemand und erklärte ihm, er bekäme nichts. Null. Wegen Hitler, den seine Urgroßeltern 1932 - vielleicht, es waren 37,8 Prozent - gewählt hätten. Der Mann aus Hamburg würde sich nur an den Kopf fassen. Der tickt nicht mehr richtig, würde er denken. Hirnrissig. Genau das gleiche passiert aber einem Erben, dessen Haus in der besten Wohngegend Danzigs stand oder sein Bauerngut in Ostdeutschland oder Pommern. Er erhält von seinem Erbe nichts. Selbst wenn wir einmal die erkennbar absurde These von Lea Rosh zugrundelegen würden, daß die Deutschen ein Tätervolk seien - ein Wort, das nicht zu Unrecht - kürzlich zum Unwort des Jahres gewählt wurde -, die Deutschen also als Tätervolk nach 60 Jahren immer noch für Hitlers Krieg zahlen müßten, warum zahlt der Erbe aus Danzig oder Breslau und nicht der Erbe aus Köln oder Hamburg-Blankenese? Pech? Hitlers Krieg so etwas wie höhere Gewalt? Wie Feuer und Erdbeben? Das Rechtsgut (Haus oder Boden) ist ja nicht untergegangen, es ist nur von jemand anders, einem Polen oder Tschechen in Besitz genommen worden. Arglos. Man hat ihnen gesagt, daß die Deutschen durch den verlorenen Krieg jeden Anspruch auf ihr Eigentum verloren hätten. Pech für die Pommern, Schlesier, Danziger, Ostdeutschland und Sudetendeutschen.

Jedermann weiß, daß es in der Rechtsgeschichte kein Tätervolk gibt, sondern nur Ansprüche. Deshalb bewahren die Palästinenser aus dem Westjordanland immer noch ihre Grundbuchauszüge von 1967 auf, obwohl ihr Land längst von anderen in Besitz genommen wurde, übrigens auch infolge eines verlorenen Krieges. Die Ansprüche auf ihr Eigentum behalten sie.

Die Ansprüche der deutschen Vertriebenen auf ihr Eigentum hat die Bundesregierung gegenüber Polen und Tschechien für null und nichtig erklärt. Das war sehr leichtfertig, denn der Verzicht auf das Privateigentum von Bürgern der Bundesrepublik müßte auch nach internationalem Recht und vor allem EU-Recht Bestand haben, und die Ansprüche der Erbberechtigten könnten sich andernfalls mit Aussicht auf Erfolg gegen die Bundesrepublik Deutschland richten. Und das würde sehr teuer werden. Der minimale Lastenausgleich von 1952 war ausdrücklich als vorläufig und als Abschlagszahlung deklariert. Vier Provinzen sind nicht aus der Portokasse zu bezahlen. Die von Frau Steinbach vertretene Mehrheit der Vertriebenen aber will diese Ansprüche nicht betreiben. Das ist mehr als Versöhnungsbereitschaft. Polen und Tschechien wissen das auch und müssen das endlich auch öffentlich aussprechen. Es geht um Gerechtigkeit, um das Recht auf Heimatgefühl und das Recht auf Trauer.

Und die Bundesregierung sollte sich mit den Vertriebenen sehr gut stellen und sie als vollwertige demokratische Interessenvertreter betrachten und nicht länger als lästige Bittsteller, die man wahlweise als langsam aussterbende Alte oder sogar als Ewiggestrige abtut. Sondern als eine wichtige - nicht nur bei Wahlen wichtige - Kraft in unserer Gesellschaft anerkennen, deren Wunsch nach einer Gedenkstätte, dem "Zentrum gegen Vertreibungen", sie nach Kräften zu fördern hat wie die Gedenkstätten anderer Interessenvertreter. Die Überlebenden der Vertreibung und ihre Erben gegen Diffamierungen im In- und Ausland in Schutz zu nehmen ist die mindeste Sorgfaltspflicht einer verantwortungsvollen und gut beratenen Bundesregierung.

Für die Vertriebenen aber ist das Ende der Bescheidenheit angesagt.

Grundstein zur Versöhnung: Rund 70.000 Heimatvertriebene protestieren am 5. August 1950 vor dem Stuttgarter Neuen Schloß gegen die Abkommen von Jalta und Potsdam. Gleichzeitig wurde die "Charta der Heimatvertriebenen" verkündet.
 
     
     
 
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