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Wir alle wissen, daß zu einem würdigen Leben die Bewahrung der Erinnerung gehört. Elie Wiesel, der den nationalsozialistischen Terror in Auschwitz und Buchenwald am eigenen Leib zu spüren bekam, schreibt in seinem Buch „Chassidische Feier“: „Das Vergessen ist die Wurzel des Exils; die Erinnerung bedeutet Erlösung.“ Ohne Erinnerung, will er uns damit sagen, verliert der Mensch sich selbst. Das hat in einem ganz positiven Sinne schon Gustave Flaubert festgestellt, als er schrieb: „Stets sind Erinnerungen süß, mögen sie gleich traurig oder heiter sein, denn sie gemahnen uns an die Unendlichkeit.“ Sich zu erinnern, ist keine lästige Pflicht, heißt das. Erinnerungen sind für den Menschen so wichtig, wie die Luft zum Atmen. Und ohne Erinnerung an die eigene Geschichte, gibt es für ein Volk weder Gegenwart noch Zukunft. Das gilt – ganz allgemein – für jedes Volk. Wir Deutschen haben aber über das Allgemeine hinaus eine noch größere Verantwortung. Wenn wir die Erinnerung an die dunklen Jahre der national sozialistischen Tyrannei wach halten, so tun wir es nicht allein, um unser Geschichtsbewußtsein zu pflegen, sondern auch und besonders, weil wir den Opfern verpflichtet sind. Wer denken kann, ist sich in Deutschland heute ganz dieser Verantwortung bewußt ist. Es gibt viele Zeichen, an denen das abzulesen ist. Die heutige Veranstaltung ist ein solches Zeichen. Und ich freue mich deswegen sehr, heute vor Ihnen sprechen zu können …
Ich will nun jedoch nicht behaupten, daß sich in Deutschland nichts geändert hätte. Schon seit einigen Jahren steht mit dem Thema „Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa“ ein historisches Problem im Mittelpunkt einer Diskussion, an der sich viele Seiten auf breiter Grundlage beteiligen, gerade auch Politiker aller Parteien. Ich bin froh, daß wir heute in der Lage sind, über ein solch sensibles Thema unserer jüngsten Vergangenheit weitgehend sachlich und unaufgeregt zu sprechen. Das ist dem Thema auch deswegen angemessen, weil es zugleich immer unsere Nachbarländer in Ostmitteleuropa betrifft. Hier zeigt sich, welchen Reifegrad wir Deutschen erreicht haben, wenn es um das Problem historischer Erinnerung geht. Daß Erinnerung durchaus nicht einfach ist, wird dabei schon aus praktischen Gründen ganz augenfällig. Was sagt die Zahl von zwölf bis 14 Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen aus? Hilft sie uns, das damalige Geschehen zu begreifen? Kann es überhaupt Empathie und Mitgefühl mit Millionen von Menschen geben, oder übersteigt dies unsere Vorstellungskraft? Wer sich mit diesem dunklen Kapitel der europäischen Geschichte auseinandersetzt, muß sich diesen Fragen stellen …
Wir wollten, daß die Besucher (der Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“, Red.) mitleiden, weil die Deutschen, die aus ihrer Heimat fliehen mußten oder vertrieben wurden, Opfer waren. Meine Damen und Herren, es ist keine Erinnerungstäuschung und keine Umdeutung von Geschichte, wenn wir feststellen, daß die deutschen Vertriebenen Opfer waren. Sie waren es, und 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs können wir es offen und ohne Scheu sagen. Wir können es sagen, weil wir das Leid der anderen nicht vergessen. Im vereinten Europa besteht kein Zweifel mehr daran, daß niemand eine unhistorische und zudem unredliche Aufrechnung von Verlustzahlen anstrebt. Niemand kann leugnen, daß der von Hitler entfesselte Krieg nach dem anfänglichen Siegeslauf der Wehrmacht mit brutaler Konsequenz auf die Deutschen zurückschlug. Ohne den Waffengang, der von deutscher Seite vor allem im Osten als Rassen- und Vernichtungskrieg geführt worden war, wäre es nicht zu millionenfacher Flucht und Vertreibung gekommen. Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistischen Verbrechen waren unmittelbarer Anlaß für die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten.
Wenn wir Deutschen uns an das furchtbare Schicksal unserer Vertriebenen erinnern, dann ist es unverzichtbar, daß wir dabei immer klar machen, daß ihr Los nichts Singuläres in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts war. Das ist der Gedanke, der der im Haus der Geschichte konzipierten Ausstellung zugrunde liegt – und übrigens auch der Ausstellung „Erzwungene Wege“, die der „Bund der Vertriebenen“ zur Zeit im Berliner Kronprinzenpalais zeigt. Darüber hinaus wird dieses Motiv die Bundesregierung bei ihrem Vorhaben leiten, in der Hauptstadt im Rahmen des „Europäischen Netzwerkes Solidarität“ ein „Sichtbares Zeichen“ zur Erinnerung und zur Ächtung von Vertreibungen zu setzen. Die Ausstellung des „Hauses der Geschichte“ soll dabei das Herzstück bilden; dort fehlende, doch in der Ausstellung des „Bundes der Vertriebenen“ ergänzend dargestellte Themen werden geprüft und gegebenenfalls hinzugefügt. Wichtig ist, daß die europäische Perspektive hinreichend deutlich wird. Wir müssen uns als Deutsche und als Europäer erinnern, am besten erinnern wir uns gemeinsam …
„Drittes Reich“ und Holocaust gehören zum festen Bestand der deutschen Erinnerungskultur. Die Erinnerung an sie ist Teil unserer Identität. Seit der Wiedervereinigung ist neben diese Erinnerung das Gedenken an die Opfer des SED-Regimes getreten. Auch sie dürfen wir nicht vergessen. Auch das ihnen zugefügte Leid müssen wir im kollektiven Gedächtnis bewahren. Wie im Fall des Hitlerreiches muß auch im Hinblick auf die DDR Unrecht genannt werden, was Unrecht war. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig, sondern auch unserem eigenen Geschichtsbewußtsein. Wir sind verpflichtet, es zu pflegen, weil wir sonst unsere Identität verlieren.
Zur Pflege unseres Geschichtsbewußtseins gehört es übrigens auch, an die weißen Traditionslinien unserer Vergangenheit zu erinnern. Bisher habe ich nur über die schwarzen Linien gesprochen. Aber gerade an diesem Ort kommen uns allen einige der hellen Seiten unserer Geschichte in den Sinn. Denn Weimar erinnert uns nicht nur an unsere größten literarischen Klassiker, an Goethe und Schiller, sondern auch an unserer erste Demokratie. Daß die Weimarer Republik scheiterte, entwertet diesen ersten Versuch einer freiheitlichen Demokratie in Deutschland nicht. Er gehört zu den Sternstunden unserer Geschichte und muß uns im Gedächtnis bleiben, wenn wir unsere Identität bewahren wollen. Verstehen Sie mich recht, meine Damen und Herren: Ich sage nicht, daß es Aufgabe einer staatlichen Pflege des Geschichtsbewußtseins ist, eine stromlinienförmige Identität zu erzeugen. Das wollen nur totalitäre Regime erreichen. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft kann die Aufgabe von Gedenkstätten und Museen, aber auch des Geschichtsunterrichts, nur darin bestehen, zum Nachdenken über Identität und Geschichte anzuregen …
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