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Der Sündenfall mit dem Vorruhestand

 
     
 
Norbert Blüms Eingriffe in den Arbeitsmarkt sind zu einem volkswirtschaftlichen Problem erster Ordnung geworden

Vom Vorruhestand bis zu Hartz IV - die Eingriffe in den Arbeitsmarkt standen nie unter einem guten Stern - viel zu optimistisch geplant, viel zu teuer in der Abwicklung. Bis Anfang der 80er Jahre hatten sich die Regierungen in Bonn darauf beschränkt, für Unternehmen günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen.

Mit Amtsantritt von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) im ersten Kabinett Kohl wendete sich das Blatt. Blüm wollte gezielt in den Arbeitsmarkt eingreifen und 1984 mit einem Vorruhestandsgesetz (Gesetz zur Erleichterung des Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand) ältere Arbeitnehmer
bewegen, ihre Arbeitsplätze für Jüngere aus den geburtenstarken Jahrgängen freizumachen. Die bis 1988 befristete Regelung verstand der Arbeitsminister als "Wiedergutmachung an die Geburtsjahrgänge, die die Lasten und Folgen des Zweiten Weltkrieges tragen mußten"; jedenfalls erklärte er sein Gesetz so der Öffentlichkeit.

Blüm, der aus dem Arbeitnehmerflügel der Union stammt und enge Verbindungen in die Gewerkschaften pflegte, wollte zugleich gegen die Forderungen nach der unseligen 35-Stunden-Woche antreten und lieber die Lebensarbeitszeit verkürzen. Doch die Gewerkschaften setzten sich letztlich gegen Blüm durch.

Blüm aber hielt am Vorruhestand fest: Arbeitnehmer, die 58 Jahre oder älter waren, konnten aufgrund tarifvertraglicher Regelungen freiwillig ausscheiden und bis zum Rentenalter vom Arbeitgeber 65 Prozent des bisherigen Bruttoeinkommens erhalten, die Bundesanstalt für Arbeit zahlte hohe Zuschüsse. Die Rentenversicherungen mußten Beitragsverluste hinnehmen.

Die Auswirkungen des Vorruhestandsgesetzes als arbeitsmarktpolitisches Instrument sind inzwischen ausreichend von Wirtschaftswissenschaftlern und Soziologen erforscht worden. Bei 1984 durchschnittlich 2,3 Millionen Arbeitslosen (im alten Bundesgebiet) und relativ günstigen Wachstumswerten der Wirtschaft waren die Sozialversicherungen aus heutiger Sicht noch recht gut bei Kasse. Doch auf dem Arbeitsmarkt rührte sich weniger als gedacht. Rund 600000 Menschen hätten in den Vorruhestand gehen müssen, um wenigstens 200000 neue Arbeitsplätze zu schaffen, rechnete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit vor - bis Ende 1985 wurden gerade 21000 Fälle gezählt.

Blüms "Sündenfall" von 1984, anfangs gefeiert, wuchs sich aber bald zu einem volkswirtschaftlichen Problem erster Ordnung aus. Denn die Nachfolge-Regelungen - Altersteilzeit, Rente mit 60 - weckten vor allem in Großbetrieben das Interesse, mit Hilfe der Arbeitslosenversicherung oder der Rentenkassen Personal "freizusetzen". Vor allem die großen Energieversorger setzten alle ihre Lobbyisten ein und ließen sich maßgeschneiderte Lösungen schaffen. Beschädigt wurde auch die Unternehmenskultur: In die Fortbildung älterer Arbeitnehmer wird nur noch wenig investiert.

Seither versucht der Gesetzgeber, die seriös nicht zu kalkulierenden Kosten der Arbeitsmarktoperationen wieder in den Griff zu bekommen, ein wegen der zahlreichen Vertrauensschutzregeln kompliziertes Unterfangen.
 
     
     
 
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