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Ethik und Moral gehen dem Fortschritt nicht voran, sondern sie folgen ihm. Schon die zehn Gebote beweisen dies. Gebote wie "Du sollst nicht stehlen" oder "Du sollst nicht töten" sind ja nur deshalb notwendig geworden, weil Menschen bereits gestohlen und getötet hatten. Daß wir den Herrn, unseren Gott, "ehren und keine anderen Götter neben ihm haben" sollen, setzt die Erfahrung voraus, daß die Menschen viele Götter angebete t haben.
In anderen Regionen der Erde mit anderen religiösen Vorstellungen war dies nicht anders. "Gesandter Gottes, welches ist die größte Sünde? Wenn du ein Götzenbild neben Gott stellst, der dich erschaffen hat! Und was noch? ... Ehebruch zu begehen mit dem Weibe deines Nachbarn." So steht es geschrieben in den Sammlungen von Bukhari, bedeutenden islamischen Glaubensschriften. Die Weisung, Armen und Kranken zu helfen, finden wir in allen Weltreligionen. "Durch mildtätige Werke und andere Tugenden kann ich die Buddhaschaft zum Heil der Welt erlangen", heißt es in den Glaubensschriften der tibetischen Variante des Buddhismus.
Das Vorhandensein solcher religiöser Forderungen zeigt uns, daß die Menschen egoistisch und selbstsüchtig waren, denn sonst hätten solche Ge- und Verbote nicht aufgestellt und niedergeschrieben werden müssen. Ethische und moralische Forderungen sind Beweis dafür, daß es ethische und moralische Rückstände immer gegeben hat.
In der technischen Industriegesellschaft von heute ist dies nicht anders. Der technische Fortschritt, die gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die er bewirkt hat und ständig weiter bewirkt, sind mit der Moral und den ethischen Normen des vortechnischen Zeitalters nicht mehr ausreichend zu bewältigen. Ethik und Moral entstehen aus der Erfahrung, daß ohne sie das menschliche Zusammenleben nicht oder nur sehr unzulänglich funktioniert. Und neue Erfahrungen erzwingen neue ethische und moralische Normen oder die Verschärfung gewachsener Wertmaßstäbe. Nehmen wir als Beispiel die strikteste Form der Ethik, das Recht. Als sich immer mehr Eisenbahnstränge durch das Land zogen und die Schienenfahrzeuge mit immer größerer Geschwindigkeit fuhren, wurde die Erfahrung gemacht, daß die neuen Verkehrswege der Eisenbahn Gefahrenquellen neuer Art für die Menschen darstellten. Gefahren, wie es sie im Zeitalter der Postkutschen und Pferdefuhrwerke nicht gegeben hatte. Deshalb wurde für die Eisenbahn die Gefährdungshaftung eingeführt. Das heißt: Die Eisenbahn mußte für Unfälle haften, die auf ihrem Verkehrsgelände geschehen waren. Die Aufstellung von Warnzeichen und Schranken wurde verfügt.
Und was wir heute mit dem Schlagwort "Umweltschutz" oder "Lebensschutz" umschreiben, bedeutet keinesfalls nur eine neue Art ökonomischen Verhaltens. Mit Umweltschutz verbinden wir eine große Zahl ethischer Normen, die unter dem Oberbegriff "Erhaltung der natürlichen Umwelt des Menschen" zusammengefaßt werden können. Im einzelnen gehören dazu eine Reihe von Zielen, wie zum Beispiel: die Luft sauberzuhalten; die Flüsse und Meere nicht zu Kloaken zu degradieren; nicht immer mehr Naturlandschaften zu Industrie- und Wohnwüsten zuzubetonieren; die Lebensräume der Tierwelt nicht so einzuengen, daß Arten aussterben; die tropischen Regenwälder als Ökosystem und Sauerstoffquelle zu erhalten; mit den Rohstoffen dieser Erde sorglich und sparsam umzugehen, damit kommenden Generationen nicht die Lebensgrundlage entzogen wird; die Wiederverwendung von Rohstoffen zu fördern; die Zahl der Menschen auf diesem Erdball in einer Größenordnung zu halten, die menschliches Leben in Würde und Freiheit zuläßt. Dazu ist die Ausformung neuer beziehungsweise die Wiederentdeckung in vergangenen Generationen bereits gelebter Wertnormen notwendig.
Zum Werteverfall in der Gegenwart trägt seit langem bei, daß die moralische Kraft des Christentums immer weiter sinkt. Im christlichen Glauben spielt der Gedanke an Strafe und Belohnung eine bedeutende Rolle. Nun will zwar niemand die Religion als "Zuchtmittel" wiederbeleben. Doch das moralische Gewissen ist wertvolle Richtschnur für menschliches Verhalten und unverzichtbares Korrektiv für Entscheidungen. Auch Handlungen, die der Mensch vor der Allgemeinheit verbergen kann und für die er keine Strafe zu befürchten hat, werden von dem "inneren Richter" auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüft. Doch in einer Welt, die Gott für tot erklärt hat, ist dieser sittliche Wegweiser unwirksam geworden. Es ist alles erlaubt, weil keine Strafe zu befürchten ist. Auch überpersönliche Verpflichtungen, wie sie zum Beispiel durch die Bindung an das eigene Vaterland entstehen können, werden kaum noch anerkannt. Sie bilden keine Hemmschwelle gegen das Ausleben persönlicher Wünsche und Triebe. Je weniger es ein gemeinschaftliches Willensbild gibt, sein Vaterland zu stützen und zu fördern, um so mehr ist der einzelne sich selbst genug und sieht ausschließlich sein eigenes Befinden, seine persönlichen Interessen im Mittelpunkt des Lebens. Weil ebensowenig Schulen, Medien und Eltern die Erziehungsaufgabe ausreichend erfüllen, bleibt die Frage unbeantwortet, in welche Richtung denn überhaupt das Gewissen des Nachwuchses entwickelt werden soll. Strafen sind jedenfalls keine Möglichkeit, gemeinschaftsfeindliche, egoistische Triebkräfte im Zaum zu halten.
Eine Staats- und Wirtschaftsordnung, die in einem harten politischen und wirtschaftlichen Wettkampf mit anderen Staaten und Ordnungsmodellen steht, bedarf zwar nicht von oben verordneter Kollektivität, aber auf jeden Fall eines Gemeinschaftswillens, der aus der inneren Überzeugung des einzelnen erwächst, daß Freiheit, Kultur und Wohlstand nur gemeinsam erhalten werden können.
Die Werterziehung in Deutschland ist an einem Tiefpunkt angelangt, der kaum noch unterboten werden kann. Von allen Krisenerscheinungen der Gegenwart ist der Werteverfall bei weitem das schlimmste Syndrom, weil er sämtliche Lebensbereiche umfaßt: die Wirtschaft, das Staatsgefüge, die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein Volk, in dem die unverzichtbaren Wertvorstellungen verkümmern, verurteilt sich selbst zum Untergang.
"Ohne Tugenden hat das Land keine Zukunft", stellte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Rede zum 40jährigen Bestehen des CDU-Wirtschaftsrates im Herbst 1993 fest. Allein, in die Bewunderung für diese ach so unzweideutigen Worte aus einem Politikermund mischt sich für einen halbwegs regen Verstand doch mit leichtem Befremden die Frage, warum denn die CDU, die die längste Zeit in Bonn und vielen Bundesländern regierte, auch in ihrer zweiten Regierungszeit den Werteverfall fortschreiten ließ. Diese Frage sei besonders an den ehemaligen Bundeskanzler, die Kabinettsmitglieder und die Parteivorstände der letzten Jahrzehnte gerichtet.
In vielen Bundesländern regierte die CDU jahrzehntelang und beugte sich in der Bildungspolitik gar zu oft dem Zeitgeist. Bleibend gültige Werte wurden bedenkenlos auch von CDU-Politikern den pseudomarxistischen Idealen der Professorengeneration der Achtundsechziger und ihrer Epigonen geopfert, wenn nur Funk, Fernsehen und Presse den Fehlweg als "fortschrittlich" priesen.
Gewiß hat hier auch eine menschliche Schwäche hineingespielt: Es lebt sich als Politiker soviel angenehmer, wenn man von den Medien, dieser vierten Macht im Staate, zitiert, gelobt und wohlwollend kommentiert, als wenn man totgeschwiegen oder verrissen wird. So braucht man wenigstens keine Courage, um eine unpopuläre Meinung zu vertreten. Außerdem enthebt es einen des lästigen kritischen Durchdenkens, ob das Neue denn nun wirklich besser als das Alte ist, wenn man jede Neuerung unbesehen als Entwicklung zum Besseren bewertet.
Immer wieder lesen wir in Zeitungen und Zeitschriften Überschriften wie "Wertewandel als Herausforderung", "Wenn Werte wechseln" oder "Werte wandeln sich immer schneller". Da klingt so, als läge etwas Schicksalhaftes, vom Menschen nicht Beeinflußbares über der Entwicklung des Wertesystems eines Volkes, eines Staates, einer Gesellschaft. Werte werden jedoch allein durch Erziehung vermittelt oder eben nicht, wie es heute leider allzuoft der Fall ist , und sie entwickeln sich durch Vorbilder, an denen sich junge Menschen orientieren können. Fehlt dieser Bezugsrahmen, so wächst eine hilf- und ratlose, desorientierte Jugend heran. Das haben Ideologen viel früher erkannt und genutzt als bürgerliche Politiker, die auf Wertewandel reagieren, statt in der Werteerziehung zu agieren. Nach über 30 Jahren Reformen stehen wir vor einem Schulwesen, in dem Lehrer, Schüler und Eltern gleichermaßen verunsichert sind. Hunderte von ideologisch bedingten Fehlern reihten sich zu einer Prozession schulischen Niedergangs aneinander. Pluralismus der Ideen und Wettbewerb der Meinungen sind für eine Demokratie und für die soziale Martkwirtschaft unverzichtbar. Werte-Pluralismus aber, das heißt Unverbindlichkeit der Werte, zerstört das Ganze. Wo die lebens- und gemeinschaftnotwendigen Tugenden zum freien Angebot verkümmern, läßt sich auf die Dauer weder Demokratie noch soziale Marktwirtschaft betreiben. Sie beruhen auf einem von allen anerkannten Gefüge von Werten und sittlichen Eigenschaften.
In der Bundesrepublik Deutschland muß deshalb
die Familie mit allen denkbaren Mitteln gestützt werden;
die Schule durch neue Lehrpläne zur ethisch-moralischen Werterziehung verpflichtet werden;
das Prinzip der Selbstverwirklichung durch das Prinzip der Selbstverantwortlichkeit in der Gemeinschaft ersetzt werden;
die Pflege des historischen Vorbilds in Wirtschaft und Staat wieder eingeführt werden;
der Gewaltkult im Fernsehen gestoppt werden;
endlich anerkannt werden, daß ein Höchstmaß persönlicher Bedürfnisbefriedigung, verbunden mit einem Mindestmaß moralischer Beschränkung, das Ende unserer Wirtschafts- und Staatsordnung darstellt.
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