|
Endlose, weiße Weite. Wie verloren zieht ein kleiner Treck durch den Schnee, Wagen, beladen mit wenigem Hab und Gut, Fluchtgepäck. Die kleinen Pferde mühen sich über die verwehten Wege wie auch die vermummten Frauen und Kinder, die Alten kauern sich auf den Wagen zusammen. Es ist alles so, wie es im Januar 1945 war, damals in Ostdeutschland, die Erinnerung ist lebendig geworden, hat Gestalt angenommen - getreu nach dem Drehbuch der Produzentin Gabriela Sperl. Hier im tiefverschneiten litauischen Kena entstehen die ersten Aufnahmen eines ARD-Zweiteilers, der als Spielfilm das Thema "Flucht und Vertreibung " zum Inhalt hat. Für Angela, die den Dreharbeiten beiwohnte, wurde dieser grausame Exodus, den sie als Kind erleben mußte, noch einmal erschreckende Wirklichkeit, die sie auch den Schauspielern, vor allem Maria Furtwängler, in Gesprächen übermitteln konnte.
Die kleine niederländische Fokker 50 - ich befinde mich auf dem zweieinhalbstündigen Flug von Hamburg nach Vilnius - fliegt in gut 5000 Meter Höhe. Gespannt halte ich Ausschau, erkenne tatsächlich durch einige Wolkenlücken hindurch das nördliche Ostdeutschland mit seiner Küstenregion, das in die große Weite Litauens übergeht. Eine gezogene Grenzlinie aus dieser Höhe ist nicht erkennbar, und doch - ich sehe die alte Ländergrenze wieder deutlich vor mir, ich habe sie als Kleinkind von 1945 bis 1947 unzählige Male illegal überschritten.
Es war, als Mutter in Sibirien war und meine kleinere Schwester Ingrid und ich allein zurückblieben. Nach einem bereits mehrwöchigen entsetzlichen Fluchtweg waren wir in Ostdeutschland von der sowjetischen Armee überrollt und Mutter bald darauf deportiert worden. Nur hinter der litauischen Grenze lag jetzt unsere Rettung, denn hier, im Nachbarland, gab es in diesen Zeiten noch etwas zu essen. Wie lange ist das nun schon alles her. Eine weiße Wolkendecke versperrt mir wieder die Sicht, die Gedanken kehren in die Gegenwart zurück.
Auf dem engen Sitz der kleinen Propellermaschine lese ich das dicke zweibändige Drehbuch der Produzentin der Filmproduktionsfirma "teamWorx" Gabriela Sperl aus München zum neuen ARD-Spielfilm. Der Zweiteiler mit der Rahmenhandlung von Flucht und Vertreibung erzählt die fiktive Geschichte - angelehnt an historische Fakten - von Menschen in einem ostdeutschen Herrenhaus, die nicht glauben können, daß der Krieg auch über sie hereinbrechen könnte und sie heimatlos machen würde. In den Wirren der Flucht bahnt sich eine Liebesgeschichte zwischen der Gutserbin, dargestellt von Maria Furtwängler, und einem französischen Kriegsgefangenen aus dem Elsaß an. Die bereits gesendeten und von einem Millionenpublikum gesehenen Fernsehfilme "Dresden", "Die Sturmflut" und die "Luftbrücke" sind Produktionen der Filmfirma "teamWorx".
Wir landen sanft in Litauens Hauptstadt Vilnius, dem alten Wilna. Im Gepäck habe ich Literatur über Flucht und Vertreibung aus Ostdeutschland mit. Ich bin eingeladen worden, mit dem Filmteam über persönliche Erinnerungen an das unfaßbare Geschehen zu sprechen und gleichzeitig die Schauspieler bei der Einstudierung unserer weichen ostdeutschen Mundart zu unterstützen.
Im Clubraum des Hotels einer renommierten Hotelkette am Rande der architektonisch bemerkenswerten, großen Altstadt von Vilnius setzen wir uns an zwei Abenden zusammen, zunächst mit den Darstellern des Guts- und Hauspersonals, das gemeinsam mit der Gutserbin auf die große Flucht geht, und der Produzentin Katrin Goetter aus Potsdam. "Gehen Sie das Drehbuch zusammen durch und sprechen Sie miteinander ostpreußisch", schärft Regisseur Kai Wessel aus Hamburg uns freundlich ein. Ich bin auch froh über seine Weisung, die ostdeutsche Aussprache nicht zu überzeichnen. 60 Jahre nach Auflösung unseres Sprachraums läuft unsere Mundart ja immer wieder Gefahr, verfälscht zu werden.
Aber dann erstehen sie tatsächlich wieder, die altvertrauten Figuren auf unseren Gütern: die Hausdame, die Mamsell, die Köchin, die Küchenhilfen. Die engagierten Schauspieler sind gut vorbereitet, sie haben sich in unserem Dialekt bereits sorgfältig unterwiesen, stammen doch drei von ihnen aus Vertriebenenfamilien. Sogar Regieassistent Sven Fehrensen hatte sich persönlich eine kleine Lehrstunde von Hildegard Rauschenbach geben lassen sowie eine CD-ROM - besprochen von Waltraud Beger - aufgenommen und sie den Schauspielern von Berlin aus zum Einhören ausgehändigt.
Wir arbeiten das Drehbuch konzentriert bis zu seinem Schluß durch, fügen mehrmals in die Sätze ostdeutsche Ausdrücke mit ein (denn das "Marjellchen" darf keinesfalls fehlen) und korrigieren auch kleine sprachgebräuchliche Irrtümer (zum Beispiel Fritzchen oder Fritzke statt Fritzle!).
Mittlerweile sind Maria Furtwängler und Produzentin Gabriela Sperl auf unsere Runde gestoßen. Maria Furtwängler spricht laut Drehbuch nicht mundartlich, sie ist jedoch sehr interessiert an unserer sprachlichen Eigenart und Ausdrucksform. "Wie kann ich etwas Typisches einbringen?" fragt sie beharrlich. Wir sprechen miteinander einige Möglichkeiten durch, die sie aufgreift und am Set umsetzt.
Auch als wir über Fluchtereignisse sprechen, über den Treck im bitterkalten Winter, der von russischer Artillerie unter Feuer genommen wird, über die Flucht vieler verzweifelter Menschen über das Eis des Frischen Haffs, über das Schicksal der Wolfskinder, ist sie es, die besonderes Mitgefühl hegt. "Was muß das für ein Trauma für Sie alle gewesen sein", nimmt Maria Furtwängler bewegt Anteil.
Aber auch Gabriela Sperl will die Thematik Flucht und Vertreibung dokumentarisch bearbeiten und wirbt bei dieser Gelegenheit für ein Interview. Katrin Goetter interessiert sich sehr für den Schicksalsweg der Wolfskinder und fragt nach Material, das ich ihr inzwischen übermittelt habe. Beim Auseinandergehen bitten dann auch einige der Schauspielerinnen um Einsicht in die mitgebrachte Literatur.
Es ist soweit, der erste Drehtag. Litauen liegt unter einer weißen, dichten, aber niedrigen Schneedecke. Die Temperaturen be-wegen sich um den Gefrierpunkt oder etwas darunter. Die östliche, ruhige Winterlandschaft des Nachbarlandes erinnert schmerzvoll an das Bild der Heimat in jenen schweren, unheilvollen Tagen. Im Örtchen Kena, eine halbe Autostunde von Vilnius entfernt, befindet sich nördlich das Basis-camp des Filmteams. Der aufgebotene Troß mit 50 Komparsen wartet aufnahmebereit vor den Naturkulissen, und bei der technischen Crew sitzt jeder Handgriff bereits fabelhaft.
Regisseur Kai Wessel und die glänzend managende Regieassistentin Surk-ki Schrade aus Köln starten am frühen Morgen die Dreharbeiten. Im weiten Areal des Camps kommt der Treck mit den zahlreichen Pferdchen, Fluchtwagen und Handwagen langsam in Bewegung. Wie auf Abruf setzt hin und wieder leichter Schneefall ein. Etliche Spielszenen werden bis zum Einbruch der Dunkelheit an einem langen Arbeitstag hoch konzentriert abgedreht.
Mit Vergnügen und Achtung sieht man der professionellen Mannschaft bei der Teamarbeit am Spielort zu. Auch die souveräne Hauptdarstellerin Maria Furtwängler und die großartigen Schauspieler Gabriela Maria Schmeide, Beate Abraham, Barbara Morawiecz, Helene Grass (Tochter von Günter Grass), Agnieszka Piwowarska und Marie-Luise Schramm wiederholen ihre Szenen nur wenige Male. Man gewinnt den Eindruck, daß die Film-Ostpreußinnen die Klangfärbung unseres Dialekts richtig treffen und das weiche, gemächliche Idiom nicht überdehnen.
Die Außenaufnahmen in Kena wurden im Februar und März noch einige Tage fortgesetzt. Unterbrochen wurden sie lediglich für Filmaufnahmen am Haff für den Treck über das Eis. Weitere Drehorte im Laufe des Jahres sind Wismar, ein kleiner Bahnort in Niedersachsen sowie Brandenburg und Bayern. Ein Sendetermin steht noch nicht fest.
Auf der Flucht: Hauptdarstellerin Maria Furtwängler als Gutsherrin formiert den Treck. |
|