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Die Erosion des Sozialstaats

 
     
 
Weil die Stadt auf einem beträchtlichen Schuldenberg sitzt, kann Berlin seine öffentlich Bediensteten nicht mehr bezahlen. Zumindest sollen Landesbeamte und Angestellte im öffentlichen Dienst der Spree-Metropole künftig weniger verdienen als ihre Kollegen in anderen Bundesländern.

Berlin ist vergangenes Jahr aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten. Der Senat kann und will nicht den Tarifvertrag, den Bundesinnenminister Schily mit Verdi-Chef Bsirske ausgehandelt hat, einhalten. Derzeit ziehen sich die Verhandlungen mit den Arbeitnehmer
vertretern mühsam hin. Verhandelt wird über die Streichung von Weih-nachts- und Urlaubsgeld sowie die Arbeitszeitverlängerungen.

So wie bei den bundesweiten Warnstreiks im Dezember argumentieren Verdi-Vertreter, daß die öffentlich Beschäftigten nicht von der allgemeinen Lohnentwicklung abgekoppelt werden dürfen. Zwar sei ein Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst sicher, aber dies rechtfertige keine Einbußen bei der Gehalts- abrechnung.

Dieser Argumentation können Beschäftigte in der Privatwirtschaft selten folgen. Dies zeigt sich insbesondere in den Branchen, die aufgrund der zunehmenden Liberalisierung heute nicht mehr hoheitlicher Natur sind. Betroffen sind Wirtschaftszweige wie die Sicherheitsbranche, Transport (ÖPNV), Post oder Telekommunikation.

So erhält ein Wachmann, der eine Bundeswehrkaserne oder ein Verwaltungsgebäude bewacht, sehr viel weniger, als wenn er Soldat oder öffentlich Bediensteter wäre. Die oftmals ungelernten Arbeitskräfte privater Sicherheitsfirmen bekommen Stundenlöhne von fünf Euro, selbst bei Nachtarbeit und Zwölf-Stunden-Schichten. Zudem gilt gerade in dieser Branche das Prinzip "heuern und feuern".

Ein anderes Beispiel ist die Berliner Pin AG. Dieser private Postkonkurrent ist in Berlin tätig und beschäftigt 670 Mitarbeiter. Die Mehrzahl davon arbeitet als Briefzusteller - ganz so wie der herkömmliche Postbote. Das Unternehmen macht einen Jahresumsatz von etwa 20 Millionen Euro und möchte 2003 erstmals Gewinn erwirtschaften. Für Schlagzeilen sorgte die Firma, als sie im Jahr 2000 die ersten privaten Briefmarken herausgab.

Das Porto, das die Pin AG für die Zustellung verlangt, ist deutlich niedriger als das der übermächtigen Deutschen Post AG. Ein normaler Brief kostet statt 55 bei der Deutschen Post nur 45 Cent. Deshalb nimmt auch das Land Berlin die Dienste der Pin-Post in Anspruch. Die 24 Finanzämter zum Beispiel verschicken ihre Briefe über die Pin AG.

Die Arbeitsbedingungen bei der Deutschen Post gelten nicht als paradiesisch. Die Zahl der Briefzusteller wird seit Jahren verringert, wodurch die Zustellbezirke größer werden. Das bedeutet für viele Briefträger Mehrarbeit von einer bis vier Stunden pro Tag. Dennoch existieren soziale Mindeststandards, und die Arbeitnehmer werden durch einen Betriebsrat vertreten.

So etwas gibt es bei der Pin AG nicht. Der Standardarbeitsvertrag sieht ein Bruttogehalt von 900 Euro für einen Zusteller vor. Zusätzlich erhält der Mitarbeiter eine Prämie in Höhe von 500 Euro, wenn er alle Briefe zustellen konnte. Ist ein Brief jedoch unzustellbar, so wird von der Prämie ein Teil abgezogen.

In einer fluktuierenden Stadt wie Berlin, in der sieben Prozent der Bewohner im Jahr umziehen, kommt dies sehr oft vor. Das hat zur Folge, daß die Prämie fast nie, schon gar nicht in voller Höhe ausgezahlt wird. Mitarbeiter berichten, wie sie Stunden nach regulärem Dienstschluß noch unterwegs sind, um Adressaten doch noch ausfindig machen zu können.

Dabei sind die Gehälter noch gar nicht das Schlimmste an der Pin AG. Was der Belegschaft vielmehr zu schaffen macht, ist der psychische Druck, der von der Unternehmensleitung auf die Angestellten ausgeübt wird. Insider berichten von einem exorbitanten Krankenstand aufgrund des unangenehmen Führungsstils.

Sogar die Gründung eines Betriebsrates wurde lange Zeit erfolgreich unterbunden. Als die CGB-Gewerkschaft DHV versuchte, eine Betriebsratswahl durchzuführen, eskalierte der Streit. Der Pin-Vorstand entwarf ein Schreiben, in dem die Mitarbeiter erklärten, sie wollten keine Arbeitnehmer-Vertretung. Die Angestellten wurden dann massiv zum Signieren der Unterschriftenlisten genötigt.

Die Verdi-Vertreter bei der Post zeigen wegen der ungünstigen Arbeitsbedingungen selber mit dem Finger auf die Pin AG. Dabei scheint ihnen zu entgehen, daß sie ihre eigene Argumentation widerlegen, wenn sie die private Konkurrenz wegen vermeintlicher Dumpinglöhne und ähnlichem attackieren.

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, warum das Land Berlin diese private Firma beauftragt, die solche Umgangsformen pflegt. Dieser Vorgang ist ebenso skurril wie die Tatsache, daß das Land die Leitungen der US-Telefongesellschaft Colt Telecom benutzt. Berlin ist nämlich mit der Berlikomm selber Inhaber einer Telefongesellschaft, die rote Zahlen schreibt.

Der rot-rote Senat handelt weder effizient noch sozial. Die Genossen um Bürgermeister Wowereit haben offenbar ihre sonst so beschworene Verantwortung für die kleinen Leute ad acta gelegt. Ferner beweist sich, daß SPD und PDS nicht einmal die einfachsten wirtschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen in der Lage sind.
 
     
     
 
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