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Die Entstehung des Deutschen Reiches in der Mitte Europas war vom Ausland mit beträchtlichem Mißtrauen begleitet worden, zu sehr hatten sich die europäischen Mächte an die Schwäche im deutschen Raum gewöhnt. Es war daher Otto v. Bismarcks fortwährende Sorge als Reichskanzler, daß sich keine feindlichen Koalitionen gegen das Reich bilden konnten. Am wenigsten Verständnis war von den Franzosen zu erwarten, wenn jetzt Deutschland die führende Position auf dem Kontinent einnahm, obwohl Bismarcks maßvolle Forderungen nach dem 1871er Sieg Frankreichs Ehre nicht angetastet hatten. So hatte er auch den Vorschlag seiner Umgebung abgelehnt, französische Kolonien als Kriegsentschädigung zu fordern; er meinte dazu: " Ich will auch gar keine Kolonien, sie sind bloß zu Versorgungsposten gut. Diese Kolonialgeschichte wäre für uns genau so wie der seidene Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden haben."
Der geniale Kanzler hat den Weg einer überseeischen Expansion spät, sehr zaudernd und höchst ungern beschritten. Erst die der stürmischen Entwicklung der Gründerjahre folgende Wirtschaftskrise bewirkte ein Umdenken hinsichtlich des Nutzens überseeischer Besitzungen. Infolge der wirtschaftlichen Lage nebst sozialen Spannungen verließen in den 1880er Jahren 200.000 Menschen jährlich ihre Heimat, um jenseits des Atlantiks ihr Glück zu versuchen. Da schien es doch besser, diesem Verlust an nationaler Volkskraft entgegenzuwirken und die Aussiedlerströme in noch zu gewinnende Kolonien umzuleiten. Bismarck blieb von diesen Erwägungen nicht unberührt.
Zwei Jahrzehnte bevor der Gedanke an einen kolonialen Besitz in Deutschland Gestalt annahm, hatte bereits das Hamburger Handelsunternehmen Godeffroy & Sohn in der Südsee auf Tahiti und Samoa Stützpunkte und Kokosplantagen angelegt. Diese verheißungsvolle Entwicklung erlitt durch den Zusammenbruch Godeffroys einen Rückschlag. Bismarcks Versuch, das Handelshaus durch Erklärung der Schutzherrschaft über Samoa zu stützen, die sogenannte "Samoa-Vorlage", scheiterte am Reichstag, der sie mit knapper Mehrheit ablehnte. Unterdessen entstand zur Rettung der Südseebesitzungen die "Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft". Bismarck, empört über die Ablehnung der Samoa-Vorlage, stellte der Gesellschaft Marine- und Konsularschutz in Aussicht; er betonte allerdings, man müsse es den Privatunternehmungen überlassen, Kolonialgebiete zu erwerben. Daraufhin konstituierte sich 1884 in Berlin die Neuguinea-Compagnie mit dem Zweck, in der Südsee ein Gebiet mit eigenen Hoheitsrechten, aber unter dem Schutz des Reiches zu errichten. Jetzt stellte der Kanzler persönlich die Weichen für eine deutsche Kolonialpolitik. Einer Expedition der Neuguinea-Compagnie mit dem Forschungsschiff "Samoa" folgten zwei Kriegsschiffe der Kaiserlichen Marine, unter deren Schutz die Flaggenhissung und Besitzergreifung von Neuguinea und dem Bismarck-Archipel erfolgte - gerade noch rechtzeitig, um einer Einnahme durch Großbritannien zuvorzukommen. Nach zähen Verhandlungen einigten sich Deutschland, England und die Niederlande über die Aufteilung Neuguineas.
In Westafrika hatte der Hamburger Kaufmann Adolf Woermann am Kamerunfluß eine ständige Faktorei errichtet. Seine Handelsbeziehungen trugen wesentlich zur Festigung der deutschen Vormachtstellung in Kamerun bei. Woermann schuf sogar eine eigene Dampferlinie, die von Hamburg aus alle wichtigen westafrikanischen Handelsplätze anlief und die begehrten Kolonialwaren wie Kakao, Kaffee, Palmkerne, Elfenbein, Kautschuk und Edelhölzer transportierte. Die Hamburger Kaufleute schlossen sich im "Syndikat für Westafrika" zusammen, sie unterbreiteten dem Kanzler einen Lagebericht mit Vorschlägen zur Sicherung des deutschen Handels. Bismarck beauftragte nun den erfahrenen Afrikaforscher Dr. Gustav Nachtigal, damals Generalkonsul von Tunis, an der westafrikanischen Küste Verträge abzuschließen. Im Juli 1884 dampfte Nachtigal mit dem Kanonenboot "Möwe" nach Kamerun, wo tags zuvor ein britisches Kriegsschiff in den Kamerunfluß eingelaufen war. Erstaunlicherweise befand sich der englische Konsul nicht an Bord, so daß eine britische Besitznahme nicht stattfinden konnte. Dagegen gelang es Nachtigal, mit den Einheimischen Verträge abzuschließen, die den Übergang von Hoheitsrechten, Gesetzgebung und Verwaltung in deutsche Hände beinhalteten. Am 14. Juli wurde die deutsche Flagge gehißt. Schon vorher war es Gustav Nachtigal gelungen, auch Togo unter die deutsche Fahne zu stellen.
In Südwest- und Ostafrika waren es abenteuermutige Kolonialpioniere, die Ländereien aufkauften, für die sie dann den Schutz des Reiches beantragten. Bismarck gab auch hier nur zögernd seine Zustimmung. Er ging von der Grundansicht aus, daß sich mit "Generalen und Geheimräten" keine Kolonialpolitik betreiben lasse, sondern Kaufleute oder Kolonialgesellschaften viel besser geeignet seien. Auf keinen Fall wünschte er, wegen der Kolonien in europäische Auseinandersetzungen verstrickt zu werden.
Deutschlands größte und wirtschaftlich wertvollste Kolonie war Deutsch-Ostafrika. Ihr Begründer, Dr. Carl Peters, wollte eigentlich eine Hochschullehrerlaufbahn einschlagen, als eine unverhoffte Erbschaft seinem Leben eine völlig andere Zielrichtung gab. Der 28jährige Peters gründete im Jahre 1884 in Berlin die "Gesellschaft für deutsche Kolonisation"; ihre Aufgabe war die Kapitalbeschaffung zwecks Erwerbung geeigneter Kolonisationsdistrikte. Als erfolgversprechendes Projekt wählte man ein ostafrikanisches Küstengebiet aus, gegenüber der Insel Sansibar. Ohne das Auswärtige Amt zu informieren, reiste eine Drei-Mann-Expedition unter Führung des tatkräftigen Peters nach Ostafrika und begann auf eigene Faust mit den Stammeshäuptlingen Besitzverträge auszuhandeln. In Sansibar erreichte die Expedition ein amtliches Schreiben aus Berlin, daß mit einem Rechtsschutz des Reiches nicht zu rechnen sei. Trotz der niederschmetternden Nachricht gab Peters, der in afrikanischen Angelegenheiten ein Neuling war, nicht auf. Unter größten Schwierigkeiten gelang die Besitzergreifung mehrerer Distrikte im Küstenbereich.
Nach der Rückkehr berichtete Peters dem Reichskanzler über die Ergebnisse seiner Expedition. In Berlin hatte inzwischen ein Umdenken in der Kolonialpolitik stattgefunden. Kaiser Wilhelm I. empfing Peters im Palais Unter den Linden und händigte ihm den Kaiserlichen Schutzbrief für die ostafrikanischen Erwerbungen aus. Peters Pläne gingen weiter, er wollte ein Kolonialreich, das bis zum Horn von Afrika reichte. Über einen zweiten Besuch bei Bismarck schreibt er in seinen Erinnerungen: "Als der Kanzler die Karte mit den ins Auge gefaßten Grenzen sah, lachte er gutmütig und sagte, indem er mir auf die Schulter klopfte, ,Donnerwetter, wenn Sie das fertigbringen, dann kommen Sie einmal wieder. " Wegen weiterer kolonialer Ansprüche der Deutschen traten erhebliche Spannungen mit den Engländern auf. Peters reiste im Auftrage Bismarcks, der eine Rücksichtnahme auf britische Wünsche verlangte, 1886 nach London. Ein deutsch-englisches Abkommen legte die beiderseitigen Interessen fest, wenigstens blieb das Kilimandscharo-Gebiet mit dem höchsten Berg Afrikas in deutscher Hand. Rüdiger Ruhnau
Kein Kolonialpolitiker aus Leidenschaft: Für den "Eisernen Kanzler" hatte die Kolonialpolitik keine Priorität. Bezeichnend ist seine Bemerkung gegenüber dem Afrikaforscher Eugen Wolf: "Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Rußland. Und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte, das ist meine Karte von Afrika." /font>
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