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Die Welt ist klein

 
     
 
Es war in einem der Kriegsjahre 1942 oder 43: die Sommerferien hatten begonnen, und ich war, wie immer in den Ferien, nach Hause gekommen. Die Kleinbahn brachte mich schnaufend und pfeifend in mein Heimatdorf. Meine Mutter und die jüngeren Geschwister erwarteten mich freudestrahlend am Bahnhof, und ich war glücklich, wieder bei ihnen zu sein. Einige Tage später traf ich auf der Dorfstraße ein gleichaltriges Mädchen, das mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte, daß der junge französische Kriegsgefangene ihr beibringen wolle, wie man Jazz tanzt. Er reparierte in einer Werkstatt Volksempfänger und auch große Empfangs- und Sendegeräte für die im Dorf einquartierten Pioniere. Heute wäre ein zweiter Franzose in der Werkstatt und beide wollten versuchen, mit den Empfängern der Wehrmacht englische Sender mit Jazzmusik zu finden. Die Eltern wären an diesem Abend nicht zu Hause, das wäre doch eine einmalige Gelegenheit. Alleine traute sie sich natürlich nicht, ob ich nicht mit dabeisein könnte? Verbote
nes ist ja immer reizvoll, also sagte ich nach kurzer Überlegung zu.

Der zweite Franzose war der Gefangenen-Betreuer, ein Leutnant B. Es klappte alles so, wie wir es uns vorgestellt hatten. Unter vielem Gegacker lernten wir, nach für uns ungewohnter, flotter Musik Jazz zu tanzen. Es war ein sehr vergnügter Abend, den wir natürlich streng geheimhalten mußten.

Nach den Ferien war dieser Abend bald vergessen, bis ich 25 Jahre später eine seltsame Begegnung hatte. In einer Garnisonstadt in der Pfalz war nicht nur Bundeswehr, sondern auch französisches Militär stationiert. Man traf sich auf den Standortbällen der deutschen wie auch der französischen Soldaten. Der neue Kommandeur war Colonel B. Irrte ich mich oder betrachtete er mich manchmal mit leicht gerunzelter Stirn, als dächte er angestrengt über etwas nach?

Die Truppe hatte in Algerien gekämpft und von dort einen algerischen Brauch mitgebracht, den sogenannten Hammelbruch. Ein ganzer Hammel wurde viele Stunden an einem großen Spieß über offenem Feuer gedreht, bis er richtig knusprig, braun und durchgebraten war. Zwei Soldaten drehten also eines Tages einen Hammel schon in den Morgenstunden über dem Feuer, das hinter der Kommandantur in einer Grünanlage brannte. Colonel B. hatte zum Hammelbruch geladen. Wir hatten keine Ahnung, was das war. Seine letzte Einladung trug den Titel: "Frankreich, das Land des Rotweins", dazu gab es sehr viele gutschmeckende Käsesorten. Der Abend war für Gastgeber und Gäste sehr schön gewesen, also ließen wir uns auch jetzt überraschen. - Oh weh, jeder Gast mußte eigenhändig ein Stück von diesem heißen, fetttriefenden Hammel abbrechen. Mein erster Versuch scheiterte kläglich. Der Gastgeber fragte charmant, ob er es für mich tun dürfe, ich stimmte erleichtert zu, so kamen wir ins Gespräch, und mein Mann fragte ihn, wo er unsere Sprache so gut erlernt hätte: "Als junger Leutnant war ich Gefangenen-Betreuer in einem sehr schönen Dorf in der Elchniederung, mit freundlichen Menschen. Ich denke sehr gern daran zurück." Er nannte den Namen des Ortes, und mein Mann bemerkte dazu: "Das ist der Heimatort meiner Frau."

Der Colonel ergriff meine freie Hand und rief vergnügt: "Ich habe es gewußt, ich habe es gewußt, ich kenne Madame, Madame, ich kenne Sie, aber nun weiß ich auch, wo es war, es war Ihre Heimat, wir haben heimlich getanzt, es war verboten für uns, aber auch für junge deutsche Mädchen!" Dann rief er seiner Frau in französischer Sprache zu: "Chéri, ich bin doch nicht verrückt, ich kenne Madame, wir sind uns in der Gefangenschaft, in Ostdeutschland, begegnet. Le monde est petit, die Welt ist klein!"

Da er an diesem Abend Gastgeber war, kamen wir nicht mehr zu einem intensiveren Gespräch. Kurz darauf waren wir gemeinsam von der Sektkellerei zur Sektprobe eingeladen. Mein Mann und er wechselten die Plätze, so hatten wir beide viel Zeit, um über das "damals" vor 25 Jahren zu reden, wobei eigentlich nur er redete. Seine Bemühungen, die ostdeutschen Ausdrücke wieder zu aktivieren, waren recht lustig, aber wenn er mir erklärte, was er meinte, dann fand ich immer die richtigen.

Die Gefangenschaft war ihm, im Rückblick, manchmal recht vergnüglich erschienen. Sie wurden von einem betagten, gutmütigen Soldaten bewacht, der ein waschechter Ostpreuße war. Wenn die Franzosen abends bei offenem Fenster ihre Heimwehlieder sangen und bei dem Lied "Komm zurück, ich wart auf dich" angekommen waren, dann schneuzte er sich hörbar in sein großes Taschentuch und sagte: "Jungchens, nu hört man auf zu wimmern, da dreht sich einem ja das Herz im Leibe rum, geht ins Bett, morgen müßt ihr wieder früh raus." Bei der Frage der Gefangenen, warum er sie doch eigentlich gar nicht so richtig bewache, meinte er gelassen: "Ach Chottchen, ihr Dammelsköppe, wißt ihr nicht, wie viele Monate ihr rennen müßtet, bis ihr in Paris seid? Nei, nei, ihr geht mir nich laufen."

Als die Zivilbevölkerung evakuiert wurde, beschlossen auch sie auf Anraten der Dorfbewohner, sich auf den Weg nach Westen zu begeben, um nicht mit den Russen Bekanntschaft zu machen. Ein Bauer verkaufte ihnen Pferd und Wagen, natürlich gegen Quittung, damit sie beweisen konnten, daß sie alles rechtmäßig erworben hätten. Die Leute rieten ihnen, Hühner zu fangen, die sie in einem Kaburr mitnehmen sollten, so hätten sie unterwegs auch etwas Fleisch. Sie wurden ausstaffiert mit warmen Sachen von Opa, ein paar Decken, damit sie nicht frieren müßten in ihren dünnen Uniformen. So machten sie sich auf den Weg nach Frankreich. Dann berichtete er von der abenteuerlichen Flucht des Trecks, dem sie sich angeschlossen hatten, sowie ihrer Heimkehr nach Frankreich.

Der Colonel erinnerte sich an sehr viele Einzelheiten, und immer wieder klang in seinen Erzählungen durch, wie sehr er diese Menschen ins Herz geschlossen hatte. Darum hatte er freudig zugesagt, als ihm das Kommando in Deutschland angeboten wurde. Zwar seien die Pfälzer keine Ostdeutschland, aber auf ihre Weise auch liebe Menschen. Es war für uns beide eine aufregende Reise in die Vergangenheit, und immer, wenn wir uns begegneten, begrüßten wir uns lachend mit den Worten: "Le monde est petit - die Welt ist klein." N

Ostdeutschland heute: Die Stallungen Georgenburg werden wieder bewirtschaftet Foto: Hella Leuchert-Altena
 
     
     
 
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