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Ein Bild geht um die Welt

 
     
 
Der damalige Student Henning erinnert sich: "Der neunte November war ein Donnerstag. Die Nachricht von der Maueröffnung habe ich abends in Auto gehört, ich bin dann zu Freunden gefahren. Von dort aus haben wir herumtelefoniert wer alles mitkommen würde. Innerhalb kurzer Zeit kamen über 20 Frauen und Männe zusammen, alle aus Norddeutschland. Wir haben für Freitag einen Treffpunkt ausgemacht un sind von dort aus dann im Konvoi herübergefahren." Nach der Ankunft begeben sie sic – Schüler, Studenten, Berufs
tätige, teilweise aus heimatverbundene Jugendorganisationen – schnurstracks zum Brandenburger Tor.

Mitternacht beginnt Henning mit seinen Kameraden, ein Mauersegment direkt a Brandenburger Tor mit einem Vorschlaghammer zu bearbeiten. An ihm hatten sich zuvo bereits einige Berliner versucht – der auf den Wall hinab- reichende Riß auf de Foto stammt von ihnen. Das Werkzeug haben sie den jungen Leuten überlassen.

Für den Bau der Mauer hatte man hochqualitativen westdeutschen Stahlbeton verwendet zudem die einzelnen Segmente unterirdisch in einem Betonwinkel im Boden verankert, wa jedes Ausgraben unmöglich macht. Die Nahtstellen zwischen ihnen sind jedoch nu dichtzementiert, und sie werden nun zwei Meter tief rechts und links gespalten. De schwerste Teil der Arbeit aber ist, das eineinhalb Meter breite Mauersegment in de Horizontalen zu durchschlagen; hier dringt das Werkzeug weitaus langsamer vor. Mehr als zwei können sowieso nicht nebeneinander arbeiten. Keine zehn Leute bilden den harten Ker derer, die sich beständig den schweren Vorschlaghammer wechselseitig in die Hand geben.

"Die ganze Aktion hat dazu geführt, daß es ab Samstag morgens nicht mehr dies Bilder der Leute auf der Mauer gab, die auf dem Halbrund standen", bemerkt Henning Es kommt zur Räumungsaktion. Die DDR-Grenzsoldaten stürmen den Wall, stoßen die Menschen teilweise drei Meter tief rückwärts hinunter – 3000 Personen hatte zwischenzeitlich darauf Platz gefunden. Dann reihen sie sich auf, um erstmals genauer vo der Seite aus beobachten zu können, was sich an jenem Mauerabschnitt tatsächlich tut Währenddessen erklimmt Henning eine Leiter, die jemand dort angehängt hat. Unmittelba vor ihrem Anruf hatte Jörgen-Arnes Schwester eine riesige Deutschlandfahne gekauft, die ursprünglich für einen Fahnenmast hergestellt worden war. Der Student ergreift die Bambusstange, an der sie provisorisch befestigt ist, schwingt mit beiden Armen eine endlo erscheinende Zeit das mehrere Quadratmeter große Tuch. Noch heute überläuft ihn ei Schauer, wenn er daran zurückdenkt: "Es war ein Riesenorkan von Stimmen, die dan jederzeit brüllten: ,Die Mauer muß weg, die Mauer muß weg!‘, ,Einhei jetzt!’, ,Wir sind das Volk!‘ und vor allen Dingen immer wieder einfach nu ,Deutschland, Deutschland, Deutschland!‘" Bei all der freigesetzten Energi fehlt der sonst häufig zu beobachtende menschenverachtende, blinde Haß auf die Gegenseite. Als der 22jährige einigen DDR-Grenzern mit der wehenden Fahne die Mützen vo Kopf fegt, werden sie freundlich wieder zurückgegeben. Aber auch die Umstehende reagieren vorbildlich. "Was mir ganz stark in Erinnerung ist und viel bedeutet, is die absolute Friedfertigkeit, mit der alles verlief", erzählt Jörgen-Arne.

Immer tiefer dringen die Werkzeuge in das von Stahlgittern durchzogene Mauerwerk Allmählich gelingt es, die etwa fünfzehn schmalen Stahlträger freizulegen, teilweis ist der Spalt mehr als handbreit. Längst ist es hell geworden. Willy Brandt, der a vorausgegangenen Nachmittag von der Mauer zur Bevölkerung sprach, sollte recht behalte mit seiner Aussage: "Die Mauer kriegen wir heute nicht weg, aber es dauert nicht meh lange!" – Keine 18 Stunden hat es gedauert. Nach einer ganzen Nacht voll Arbei ist es nun soweit: das instabil gewordene Mauerstück soll herausgebrochen werden. Ein von den Vorgängern zurückgelassene Kette wird oben herumgelegt und ein Drahtseil dara befestigt. Auf "Hauruck" ziehen abwechselnd ein gutes Dutzend Leute mi vereinter Kraft an dem Seil, ein ganzer Pulk drückt es darauf in die entgegengesetzt Richtung, nach Osten. Das Segment wippt im Gelenk hin und her. Plötzlich sieht man Funke über der Mauerkante aufsprühen und hört lautes Maschinengeräusch. Die Kette reißt und alle Ziehenden fallen hart nach hinten. Die DDR-Grenzer sind mit aller Macht bemüht das Herauslösen des Blockes zu verhindern: Sie schweißen die Kette durch. Erneu versucht es die Menge mit Schieben. Die Soldaten an der Mauer auf der anderen Seite halte dagegen. Zehn, zwölf Mal schwankt der Block vor und zurück. Je stärker die eine drücken, um so stärker drücken die anderen zurück. "Ein Wunder, daß bei diese Aktion keine Leute gestorben sind", urteilt Wolfgang. "Vor dem Segment drängte sich so viele, wie nur herankonnten. Halb stand ja auch ich unter diesem immens schwere Mauerelement, und ich dachte: ,Wenn jetzt die Eisenträger brechen, bin ic platt!‘" Samstag morgen, 11. November, gegen zehn Uhr: Schließlich kippt e – nach Westen. In diesem Moment bricht ein ungeheurer Jubel aus. "Die Mauer is gebrochen!" Ein Ruck geht durch die Menge. Der Höhepunkt des gesamten Wochenende ist erreicht – es herrscht eine absolut euphorische Stimmung.

Nur durch die Mitwirkung der DDR-Grenzer ist ihnen der Einriß der Mauer gelungen "Als es kippte", berichtet Wolfgang, "haben wir sie auf der Gegenseite zu ersten Mal gesehen – eine johlende, lachende Menge Grenzsoldaten blickte uns an Vorher konnte man ja höchstens durch den Spalt hindurchspähen. Einige haben sich in Grunde genommen gefreut, viele waren auch unsicher, was nun werden sollte." Die DDR-Grenzer haben das "Spiel" – Auf wessen Seite kippt das Mauerstüc zuerst? – gewonnen und dadurch den Vorteil, ihre Seite viel besser absichern zu können. Im anderen Fall wäre der Block wie eine Schanze gewesen, von der man in de Ostteil hätte springen können.

Jörgen-Arnes Schwester reicht die Fahne zu Henning durch. Er steht aufrecht auf de Schräge, schwenkt die Fahne genau einmal – da bekommen einige Grenzsoldaten auf de anderen Seite den Stoff zu fassen und ziehen mit aller Kraft. Um nicht hinübergerissen zu werden, läßt der junge Mann die Fahnenstange schließlich los, weil er sich anderenfall nicht mehr auf dem Mauerstück hätte halten können. In dem Moment, als die Fahne auf de Ostseite verschwindet, ist das Gefühl der Elektrisierung im Westen schlagartig vorbei Die einmütige Aufbruchstimmung ist plötzlich verschwunden. Alle seufzen, die Freude un das Mitfiebern weichen aus den Gesichtern. Der Jubel und die geschlossenen Sprechchöre die bis zum Schluß bestanden haben, setzen aus. Unmittelbar danach ist dieses Fot entstanden, auf ihm ist nur noch bei wenigen etwas von der früheren Euphorie zu erahnen Die Anspannung bleibt – was würde nun geschehen?

Bereits während der Mauerräumung sind vereinzelte Westpolizisten in der Meng aufgetaucht, als Stunden später mit dem Einriß begonnen wird, bekommen sie Verstärkung Sie versuchen, durch Mahnungen wie "Dies ist Beschädigung fremde Staatseigentums!" den Mauerdurchbruch zu verhindern, werden von der Menge aber nu ausgelacht. Jörgen-Arne im Rückblick: "Sie machten einen verkrampften überanstrengten Eindruck, so, als würde sie der ganze Umstand einfach nur nerven." Manche ändern allerdings auch plötzlich ihre Meinung. Laut schreiend nähert sich ei Polizeibeamter den "Umstürzlern": "Verlassen Sie sofort die Mauer! Si stehen auf fremdem Staatseigentum!" Da setzt von der Gegenseite wieder de Wasserwerfer ein, der zwischenzeitlich pausiert hat. Ein blinder Schuß geht los un trifft den Polizisten, und die Wassermassen stürzen auf ihn nieder, als habe jemand eine Eimer Wasser über ihm ausgegossen. Der Wasserstrahl reißt ihm die Schirmmütze vom Kop und schleudert sie in den Dreck. Einen Augenblick steht er wie erstarrt. Dann dreht e sich zu den Grenzern, brüllt: "Dann macht doch euren Scheiß alleine!"

Nach dieser Durchbruchsaktion fährt plötzlich eine ganze Kolonne von West-Berline Polizeimannschaftswagen auf. Sie kommen mit Blaulicht direkt bis an die Mauer heran, die Straße wird freigemacht. Schon dringen behelmte Truppen mit heruntergeklapptem Visier Schlagstöcken, Schilden und Megaphonen in die Ecke vor dem Wall. Unten auf dem Foto sin bereits die Helme der gerade anrückenden Polizisten in voller Kampfmontur zu sehen. De Einsatzleiter gibt den Befehl an seine Kollegen weiter: "Jeder, der noch weiter Straftaten an der Mauer begeht, ist sofort in Gewahrsam zu nehmen!" Widerstan erscheint zwecklos. "Kommen Sie herunter!" fordert ein Polizist. – I diesem Moment ist das Foto entstanden. Laut brüllend "Hier wird jetz geräumt!" drängen sich die Verstärkungskräfte brutal hindurch. Kurz darauf is alles vorbei. Zwar wird in der Regel nur bei Widerstand geprügelt, doch die Leute werde sehr grob geschubst und beiseite gedrängt. Die Räumung des gesamten Areals stößt au das völlige Unverständnis der dort versammelten Bevölkerung. "Wir hatten mit alle gerechnet – nur nicht damit, daß West-Berliner Polizisten uns nun von dor vertreiben würden", bezeugt Iris, eine junge Frau.

Die West-Berliner Polizei schützt die Mauer. An einem Stahlseil ziehen richten die Grenzsoldaten das gestürzte Segment wieder auf, schweißen di Ränder fest. Gleichzeitig sperren die Westpolizisten die Stelle weiträumig mi ihren Mannschaftswagen ab. "Am niederschmetterndsten war es zu sehen, daß die Bresche nicht offen bleibt" bedauert Henning noch heute.

Dennoch war die Tat nicht umsonst. Sie beweist: Die wichtigste politische Ebene wa hier das Volk, die Initiative ergreifen Jugendliche voller Tatendrang. Ausgerechnet da erste freistehende Segment der Mauer vor dem Brandenburger Tor brechen sie heraus, un ausgerechnet jenes, auf dem vorher in riesengroßen Buchstaben das Wor "Hilflos" zu lesen war. Und was ist nach all dem aus der Fahne geworden, jene ersten, die durch die Mauer hindurchwanderte? Den historischen Stoff sicherte sich ei DDR-Grenzer als Andenken. Das Bild vom ersten, nur vom Volk erzwungenen Mauerdurchbruc ging vor zehn Jahren um die ganze Welt. Es könnte einmal zum Symbol einer neuen Zei werden, al- ler momentanen Enttäuschung über die Wiedervereinigung zum Trotz
 
     
     
 
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