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Geben Sie sich keine Mühe, den Schluß vorweg zu lesen, ich sag s Ihnen lieber gleich: diese Geschichte nimmt ein gutes Ende! Ich weiß zwar noch nicht wie, denn sie fängt ja eben erst an, aber soviel kann ich Ihnen jetzt schon versprechen: ich bin fest entschlossen, diese Geschichte gut enden zu lassen. Soviel Macht hat man als Autor nun mal. Wenigstens Geschichten können manchmal gut enden, obwohl auch dagegen manche Leute etwas einzuwenden haben.
Beginnen werde ich meine Geschichte auf Bahnsteig 8 des Hauptbahnhofs um - sagen wir mal - um neunuhrzweiundzwanzig, also kurz vor Ankunft des Zuges von der Küste, der nach kurzem Aufenthalt dorthin zurückkehren wird. Vor wenigen Stunden ist die Sonne verheißungsvoll über der Stadt aufgegangen, hat ihr Licht wie goldene Läufer in die engen Straßen der Altstadt gerollt, die Hitze des Vortages schon in den frühen Morgenstunden neu entfacht und nun auch die letzten Langschläfer aus ihren Betten getrieben.
Dagegen ist es hier auf Bahnsteig 8 graugrün, zugig und schmutzig. Aber das kennen Sie ja. Es ist auf allen Bahnsteigen der Welt das Gleiche. Der gleiche Schmutz, die gleichen Gerüche, die gleichen Geräusche. Und überall die gleiche, irrsinnige Rastlosigkeit der Reisenden, die mit ihren Gepäckstücken bald nach vorne, bald weiter nach hinten laufen, sich verabschieden, sich nochmals verabschieden, sich Grüße auftragen und sich küssen. Kein Stapellauf , kein aufschwenkender Theatervorhang kann erregender sein, als diese Lautsprecherdurchsage: "Vorsicht an der Bahnsteigkante - der Zug aus Richtung Soundso läuft ein!" Wie kleines Getier fahren einem dabei die Nervenenden den Rücken auf und nieder. Spätestens von diesem Augenblick an starrt alles mit verengten Pupillen die Schienen entlang aus der Bahnhofshalle hinaus dem einfahrenden Zug entgegen. Und just das ist der Moment, der mich immer wieder reizt, genau in die entgegengesetzte Richtung zu sehen. Mitten in all die Gesichter, die wie kleine blasse Ballons im graugrünen Licht schweben.
Sie sehen mich nicht, aber ich sehe sie. Alle, alle mit dieser entsetzlich nervösen Spannung. Das ältere Ehepaar, das da so ängstlich dicht beieinander steht, die junge Mutter mit ihren beiden antiautoritären Kindern, die sich die ganze Zeit um einen Gummireifen gezerrt haben und die jetzt ebenfalls wie die Salzsäulen dastehen und starren. Und dort der Malaie mit seinem Seesack, der neue Heuer suchen wird. Ja, - und dann dort die junge Frau, sehen Sie, die meine ich. Die mit der zimtfarbenen Cordhose und dem nabelkurzen Lederwestchen. Ja, die! Ein bißchen was von Prinz Eisenherz hat sie an sich mit ihrer Pagenfrisur und der drahtigen Figur, finden Sie nicht auch? Obwohl, so jung ist sie anscheinend doch nicht mehr, wenn Sie genauer hinschaun. Wohl eher an die Vierzig, würde ich sagen. Aber fabelhaft gehalten! Gute Figur, sportlich, mit dem richtigen Gespür für sich selbst. So etwas merke ich. Da kann man mir nichts vormachen. Von solchen Menschen geht einfach etwas aus, das sich nicht verfälschen läßt.
Also, kurz und gut: die nehme ich! Und ich nenne sie Hanna. Hanna paßt sehr gut zu ihr. Hanna spricht sich gut, liegt gut und weich im Mund und schreibt sich schnell. Denn diese Geschichte soll nicht sehr lang werden. Es ist schließlich ein sehr schöner Sommertag, und ich habe nicht die Absicht, den ganzen Tag damit zuzubringen.
Da ich Ihnen das Ende ja schon zu Anfang verraten und den Anfang, so gut es mir möglich war, geschildert habe, bleibt mir eigentlich nur noch, Ihnen den Mittelteil zu erzählen. Und der erstreckt sich so ziemlich über diesen ganzen schönen langen Sommertag.
Moment, der Zug fährt gerade ein. Es ist ja so furchtbar laut. Ich muß aufpassen, daß ich unsere Hanna nicht aus den Augen verliere. Aber da, sehen Sie, da steigt sie gerade in das Zweiterklassenichtraucherabteil. Und der Herr dahinter, - ja der, - der ältere, der recht gut aussehende ältere Herr mit der Sonnenbrille und dem rotblauen Halstüchlein im Hemdkragen, - sehen Sie? - sehen Sie, wie er ihr nachsteigt? Nicht unsympathisch, aber auch nicht unbedingt der Typ, der einen vom Stuhl reißt, obwohl er das wahrscheinlich von sich glaubt. Jedenfalls wird er sich zielstrebig unserer Hanna im Abteil gegenübersetzen und wird sie mit seiner charmanten Anwesenheit zu bereichern versuchen. Den ganzen schönen Sommersonntag lang. Und Hanna wird es genießen, denn sie ist eine Sammlernatur.
Die beiden werden einen schönen Tag haben am Strand, werden Kurtaxe zahlen, sich einen Strandkorb mieten und sich in die Brandung stürzen (falls es heute eine solche gibt, aber das ist kaum anzunehmen bei dieser Hitze). Auf jeden Fall werden sie zum Schwimmponton der Lebensrettungsgesellschaft hinüberschwimmen, denn diese Demonstration seiner sportlichen Fähigkeiten wird er sich nicht entgehenlassen. Danach werden sie dann in ihrer Strandburg liegen, sich einen Sonnenbrand holen, den Sand durch die Finger rieseln lassen und miteinander reden. Das heißt: er wird reden. Hanna wird immer einsilbiger werden. Trotzdem, den Tango vor der Kurkapelle wird sie mit ihm tanzen und dabei wieder bester Laune sein. Aber spätestens beim Eis-essen im Gartenlokal an der Promenade wird sie sich einen Schafskopf nennen, daß sie sich nicht schon längst verkrümelt hat. Höflichkeit hin - Höflichkeit her! Aber nun ist es doch schon zu spät. Und irgendwie hat sie s ja doch genossen, da muß sie schon ehrlich sein.
Noch vor Sonnenuntergang werden die beiden dann mit dem selben Zug, im gleichen Abteil zurück in die Stadt fahren. Die Hitze wird fast unerträglich sein, und die beiden werden sich nun wirklich nicht mehr viel zu sagen haben. Der Zug wird mit dem gleichen Getöse wie heute morgen in die Bahnhofshalle donnern und mit einem langausseufzenden Puff auf Bahnsteig 8 stehenbleiben, der Lautsprecher wird quaken, ohne daß auch nur jemand ein Wort versteht, aber das kennen Sie ja, es ist, wie gesagt, auf allen Bahnsteigen der Welt das gleiche.
Sehen Sie, da sind die beiden wieder! Oh, er trägt tatsächlich noch Hannas Basttasche die Treppe hoch. Das hätte ich nicht gedacht. Na ja, so übel ist er wohl auch nicht. Wir wollen da gerecht sein. Manch anderer hätte sich wahrscheinlich die Finger nach ihm geleckt. Aber unsere Hanna? Nein, ich weiß nicht ... Nun ja, es ist ja auch schiefgelaufen. War fast vorauszusehen.
Der Abschied draußen auf dem Bahnhofsvorplatz ist nun auch dementsprechend. Sie reden zwar noch einmal miteinander, eben das, was man in solch einer Situation redet, eine knappe Verbeugung seinerseits, sehr korrekt, das muß man ihm lassen (fast sah es so aus, als wollte er ihr einen Handkuß geben, aber nein, doch nicht; ist auch besser so). Ob er die leichte Ironie in Hannas Augen bemerkt hat? Jedenfalls zuckt er leicht bedauernd die Schultern, wendet sich nun endgültig ab und geht seiner Wege, ohne sich noch einmal umzusehen.
Ja, sehen Sie - nun sind Sie mir böse. Aber ich hatte Ihnen ein gutes Ende dieser Geschichte versprochen. Wäre es anders gekommen, glauben Sie s mir, es wäre nicht gut ausgegangen.
Unsere Hanna wird nun, den Bademantel über der Schulter und die Basttasche schwenkend, ein bißchen müde, aber immer noch recht gut zu Fuß, über den Lindenplatz und die beiden Brücken heimwärts gehen, und dabei wird die tiefstehende Sonne ihr lange, schräge Schatten vor die Füße legen. In der engen, steilen Gasse hinter der Kirche wird sie die Hitze zu spüren bekommen, die sich hier den ganzen Tag über eingenistet hat. Sie wird einen weiteren Blusenknopf öffnen, sich das Haar aus der Stirn streichen, glückselig ihre grüne Haustür aufschließen, und dabei wird die Sonne wie ein goldenes Brett in ihre kleine Diele kippen.
Weiter können wir unsere Hanna nun nicht mehr begleiten. Aber ich bin sicher, daß sie zuerst die Sandalen von den Füßen gestreift hat und nun barfuß durch die Wohnung rennt, um sämtliche Fenster weit aufzusperren. Und das Lächeln, das die Fältchen um ihre Augen noch ein wenig tiefer einritzt, wird ihr gut zu Gesicht stehen.
Eduard Kado: Erntefeld - Titelbild des neuen Kalenders "Ostdeutschland und seine Maler" für das Jahr 20 |
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