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Eine Reise um die Welt

 
     
 
Das Schild hing neben der Eingangstür des Nachbarhauses. Im Laufe der Jahre war der Rahmen undicht geworden, so daß sich der Regen einen Weg unter die Glasscheibe bahnen konnte. Er hatte das Papier aufgeweicht, dessen Beschriftung auf Herrn Grünleins Unternehmen hinwies. In barocken Buchstaben bot hier der Schneidermeister einem modebeflissenen Publikum seine Dienste an. "Maßwerkstatt" war da zu lesen. Wenn man jedoch der bräunlich verfärbten Spur eines Wassertropfens folgte, die sich von oben her über das Pappschild zog, erblickte man unter dem ins Auge springenden Wort in kleinerer Schrift den Zusatz "Reparatur
en und Änderungen werden bestens ausgeführt". In einer Ecke stand: "Über den Hof - 3. Stock". Diese Umschreibung ließ erkennen, daß sich Waldemar Grünleins sogenannte Maßwerkstatt im Hinterhaus befand.

Ich war zwölf Jahre alt, als ich dem Schneidermeister zum erstenmal begegnete. Er rettete mich aus einer fatalen Situation. Im Verlauf einer wilden Verfolgungsjagd war ich mit meiner neuen kurzen Hose an den spitzen Zacken eines Eisenzaunes hängengeblieben. Bei dem Versuch, mich zu befreien, riß ich ein Loch in den unteren Rand eines Hosenbeins. Ratlos standen die Freunde um mich herum und betrachteten den Schaden.

In diesem Moment kam Herr Grünlein vorbei. Er erkannte sofort, daß schnelle Hilfe geboten war. Ohne viel zu fragen, nahm er mich in seine Werkstatt mit hinauf. Die Lösung, die er zur Behebung des Mißgeschicks fand, war verblüffend einfach. Er kürzte beide Hosenbeine um ein kleines Stück, so daß das eingerissene Loch auf der Innenseite des Umschlags verschwand.

Diese selbstlose Tat besiegelte die Freundschaft zwischen Herrn Grünlein und mir. Aber nicht nur der Dank für die instandgesetzte Hose veranlaßte mich, den hilfsbereiten Schneidermeister noch öfter in seiner Werkstatt zu besuchen. Es gab auch einen anderen Grund dafür.

Bei unserem ersten Zusammentreffen hatte Herr Grünlein eine Bemerkung über seine Reisen in fremde Länder gemacht, die meine Neugier weckte. Und als er sah, daß er in mir einen aufmerksamen Zuhörer fand, reihte sich bald eine Erzählung an die andere. Sooft ich Zeit hatte, kam ich nachmittags zu ihm. Der Schneidermeister, wohl gute 50 Jahre älter als ich, saß mit gebeugtem Rücken auf seinem Arbeitstisch. Trotz der stark geschliffenen, fast auf seine Nasenspitze gerückten Brille waren die Augen dicht über die Nadel geneigt. Doch er ließ den Faden schnell und mit straffem Zug durch den Stoff gleiten.

Es war Flickarbeit, die er machte. Andere Aufträge schienen sehr selten geworden zu sein. Vom Tisch aus blickte Herr Grünlein auf den abbröckelnden Verputz einer grauen Hauswand. Seine Werkstatt war eigentlich nur eine größere Kammer. Aber das alles wurde unbedeutend, sobald der alte Schneidermeister zu erzählen begann. Welch ein abwechslungsreiches, abenteuerliches Leben hatte dieser schmächtige, unscheinbare Mann geführt, so war er als Schiffsschneider in der ganzen Welt herumgekommen.

Im ersten Augenblick stutzte ich wohl ein wenig, als ich die seltsame Berufsbezeichnung hörte. Doch dann sagte ich mir, daß es ja auch Schiffsärzte und Schiffsköche gab. Weshalb also nicht auch einen Schiffsschneider?

Letztlich aber beseitigten seine Geschichten jeglichen Zweifel an den Reisen, die Herr Grünlein unternommen hatte Er ließ mich den tobenden Orkan am Kap Hoorn, dem südlichsten Zipfel Südamerikas, miterleben. Ich zog in seiner Begleitung mit einer Karawane durch die Sandwüste der Sahara und bestieg den Kraterrand des Vesuvs bei Neapel. Außer mir gab es niemanden in der Klasse, der genau wußte, wie viele Tage ein Schiff damals auf der Reise von Hamburg zu der Insel Trinidad unterwegs war.

Die Affen auf dem Felsen von Gibraltar erschienen mir ebenso vertraut wie die weißen Elefanten in den Straßen Kalkuttas. Herr Grünlein ließ mich an einer Löwenjagd in den tropischen Wäldern Afrikas teilnehmen und geleitete mich sicher durch die Katakomben Roms. Aus der grauen Mauer vor seinem Fenster zauberte er für mich in farbenprächtigen Bildern die Schönheit palmenumrauschter Südseestrände hervor.

Während der Schneidermeister mit sorgsamen Stichen einen Flicken auf einen durchgewetzten Jackenärmel setzte, wurde seine gebeugte Gestalt auf dem Arbeitstisch zum Araberscheich, der vor seinem Zelt am Lagerfeuer kauert. Und im geheimnisvollen Licht der Dämmerstunde sah ich einen Häuptling der Kopfjäger Borneos, wie er mit gemurmelten Beschwörungen die Regengötter herbeirief.

Herr Grünlein schien es gar nicht zu bemerken, daß er auf einem Hinterhof in einer engen Kammer hauste. Er hatte sein wild bewegtes Leben gelebt und die ganze Welt gesehen. Ich erfuhr von ihm so viel über fremde Erdteile und ihre Bewohner, daß ich mit meinem Wissen unseren Geographielehrer in höchstes Erstaunen versetzte.

Herr Grünlein starb unerwartet über Nacht. Eine alte Frau, die hin und wieder nach ihm gesehen hatte, fand ihn eines Morgens tot im Bett. Ich war sehr betrübt darüber, daß unsere Freundschaft ein so jähes Ende nahm. Doch der plötzliche Tod des Schneidermeisters enthüllte auch ein Geheimnis, von dem ich bisher nicht das geringste geahnt hatte. Eigentlich war ich schon seit langem entschlossen gewesen, Herrn Grünlein um ein Erinnerungsstück von einer seiner vielen Reisen zu bitten. Ich zweifelte nicht daran, daß er mir diesen Wunsch gern erfüllt hätte. Deshalb fragte ich nun die alte Frau danach, die seinen Nachlaß ordnete.

"Reiseandenken ...?" wiederholte sie und sah mich verständnislos an. "Wie sollte Herr Grünlein dazu gekommen sein? - Er hat doch in seinem ganzen Leben unsere Stadt nicht verlassen."

Ich konnte meine Bestürzung kaum verbergen. Die Frau tröstete mich mit der Bemerkung, daß der Schneidermeister ein seltsamer Kauz gewesen sei, der eine Menge zerlesener Bücher, Landkarten und Zeitungsausschnitte gesammelt und in einem Verschlag neben seiner Schlafkammer aufgestapelt hatte. "Alles doch nur Krimskrams", meinte sie achselzuckend und stellte mir frei, davon zu nehmen, was mir gefiel. Ich sah den "Krimskrams": ausführliche Beschreibungen jener Länder und Kontinente, die mir durch die Schilderungen von Herrn Grünlein so vertraut geworden waren. Vergilbte Fotografien exotischer Menschen und Landschaften hatten ihn zu seinen eindrucksvollen Erzählungen angeregt. Mit Hilfe abgegriffener Handbücher und Fahrpläne trug er auf Seekarten die Schiffsrouten zu fernen Küsten ein, die er nie erreichte ...

Nur in seiner Phantasie war Herr Grünlein zum Weltreisenden geworden. Ein seltsamer Kauz, gewiß. Aber auch ein Mann, dem ein bunt schillernder Traum dazu verholfen hatte, die graue Wirklichkeit vor dem Fenster seiner Schneiderwerkstatt zu vergessen.

Sigi Helgard: Morgendämmerung am See (Öl, 1996)
 
     
     
 
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